1. Keine Klagen mehr über die Deutsche Bahn

Ein Bahnhof, mitten in der Pampa, man wartet, dass die rote Bahn eintrudelt. Zehn Minuten vergehen, fünfzehn, zwaaaaanzig. Enttäuschung wird zur Rebellion und ich steige auf den Fernbus um. Oder die Straßenbahn. Oder U-Bahn. Früher oder später schafft man es in Deutschland nämlich doch irgendwie immer, seine Oma, die im letzten Hinterwald-Kuhkaff lebt, zu besuchen.

Jetzt wohne ich in den USA und alles ist anders. Wenn meine Oma hier wohnen würde, könnte ich sie nicht besuchen, denn Busse und Bahnen gibt es nur zwischen Großstädten. Ohne Auto ist man hier ziemlich aufgeschmissen. Die Benzinpreise hier sind dreimal so günstig wie bei uns; es gibt einfach keinen Bedarf für öffentliche Verkehrsmittel. Was ich gelernt habe: Sich über die Deutsche Bahn aufzuregen hat schon fast Luxuscharakter. Es ist Jammern auf höchstem Niveau. Besser ein öffentliches Verkehrsmittel nutzen zu können, das einen vielleicht einmal 20 Minuten hängen lässt, als absolut keine Möglichkeit, seine Oma im Kuhkaff zu besuchen. Ich werde mich nie wieder über Bahnverspätungen beschweren. Bitte erinnert mich dran, wenn ich auf Heimatbesuch bin.

2. Deutsche Pünktlichkeit interessiert niemanden

Wenn man in Deutschland Besuch von Freund*innen erwartet, trifft oft eins von drei Szenarien ein: Der*die Freund*in steht wie verabredet Punkt 18 Uhr vor der Tür. Oder aber, ich erhalte eine SMS um 17:57 Uhr, dass der*die Freund*in leider fünf Minuten später kommt, mit einem zerknirscht dreinguckenden Emoticon dahinter. Die dritte Variante ist, der*die Freund*in erscheint um 17:50 Uhr und entschuldigt sich, dass er*sie zu früh ist.

In den Vereinigten Staaten ist die Wahrscheinlichkeit, dass eines der drei Szenarien eintritt, so unwahrscheinlich wie die Pünktlichkeit der Deutschen Bahn. Ich habe es oft erlebt, dass sich Freund*innen, Vermieter*innen und Lieferanten angekündigt und ich nicht weniger als dreißig Minuten am Fenster gewartet habe, wie eine Rentnerin, nur ohne Katze. Niemand hier weiß meinen inneren Drang auf Pünktlichkeit zu schätzen.

Was ich gelernt habe: Ich muss mich zumindest nie mehr beeilen, meine Wohnung aufzuräumen. Ich kann mir schön Zeit lassen, denn meine US-amerikanischen Freund*innen tun es ja auch. Ich habe bereits so viel Zeit damit verschwendet, mich in filmreifer Position neben der Haustür aufzubauen, dass ich mittlerweile zu dem Entschluss gekommen bin: Ein*e unpünktliche*r Freund*in verdient keine saubere Wohnung. Und das klingt nur nach einer Ausrede, ganz ehrlich.

3. Zum Frühstück fließen Milch und Honig

Mein deutsches Frühstück war oft ziemlich armselig, zumindest unter der Woche. Kaffee und eine Scheibe Toast mit Nutella oder ein Marmeladenbrot mussten oft herhalten. Selbst wenn ich in einem Café gefrühstückt habe, war das Ausgefallenste vielleicht ein Omelett mit frischen Kräutern, dazu ein frisch gepresster O-Saft.

Wenn es um die angeblich wichtigste Mahlzeit des Tages geht, dann wissen die US-Amerikaner*innen jedoch meiner Erfahrung nach am besten, wie es gemacht wird. Neulich war ich in einem Café und habe Pancakes aus Buttermilch mit Zimt, Bananen, Schokoladenstückchen, Ahornsirup und Pekannuss-Raspeln bestellt. Himmlisch! Kaffee, Wasser und Erfrischungsgetränke werden unendlich und kostenlos nachgeschenkt und man kann gar nicht anders, als sein paradiesisches Frühstück stundenlang auszudehnen und auf der Brunch-Wolke Sieben kleben zu bleiben. Die Straßenränder sind mit Breakfast-All-Day-Schildern gepflastert und man wird dort von riesigen Schokoladen-Marshmallow-Muffins, Triple-Dark-Chocolate-Fudge-Cookies und Erdnussbutter-Krokant-Zimt-Bagels begrüßt.

Was ich gelernt habe: Die Deutschen haben zwar das beste Brot der Welt, täglich sehne ich mich nach einem deftigen Schwarzbrot, aber wenn es um andere Backwaren geht, dann befördern mich die Vereinigten Staaten schnurstracks in den Frühstücks-Himmel. Ohne Rückfahrkarte.

4. Die Welt in Jogginghosen entdecken

Zu Hause in Deutschland gab es nur zwei Situationen, in denen ich mich in Jogginghosen in der Öffentlichkeit wohlgefühlt habe:

auf dem Weg zum Briefkasten, um die Post zu holen – und das ganze Unterfangen hat nicht länger als eine Minute gedauert. Nicht mit den Nachbar*innen reden, Augenkontakt vermeiden. Oder nach dem Sport, wenn das Outfit nach "Ich komme gerade vom Fitnessstudio! Ich habe meine soziale Pflicht erfüllt!" schreit.

Vor einigen Tagen musste ich zur Post, die in einer anderen Stadt ist. Da ich mich der US-amerikanischen Lebensweise anpassen möchte, machte ich mir also nicht die Mühe, mich extra dafür umzuziehen. Ich fühlte mich wie eine Aufständische, die zum ersten Mal einen tiefen Atemzug der süßen Freiheit nimmt. Ich habe mich trotzdem ein kleines bisschen schlecht dabei gefühlt und pausenlos daran gedacht, was wohl die anderen Leute von meinem Aufzug halten. Dieses Kopfkino hörte plötzlich auf, als ich vor mir in der Schlange meine Nachbar*innen stehen sah. Alle in Jogginghosen.

Was ich gelernt habe: Solange alle so aussehen, muss man sich keine Sorgen machen. Was zählt ist der Auftritt. Also tief Luft holen, Bauch rein und stolz zum Briefkasten geschlurft.

5. Kleinigkeiten sind noch toller

Würde ich im Lotto gewinnen oder würde mir jemand mein absolutes Traumhaus einfach so schenken, dann würde ich wahrscheinlich "cool" oder "Wahnsinn" stottern. Es mag sein, dass es fantastisch, spektakulär, wundervoll, atemberaubend und überragend ist, aber solche Begriffe verwende ich nur in schriftlicher Form. Selbst wenn ich mich wie eine Schneekönigin freue, dann ist "cool" dennoch das höchste der Gefühle. Ich denke, wir Deutschen sind eher bescheiden und halten uns oft an das bayerische Sprichwort "Nicht gemotzt ist genug gelobt" – hier auf Hochdeutsch übersetzt.

In den USA sind die Menschen so überschwänglich, dass es fast schon verdächtig ist. Jede neue Show auf Netflix ist "the best, most fantastic, most gorgeous and beautiful thing you have ever seen". Ü-ber-ragend! Awe-some! Ich frage mich, was das über mich und meinen bescheidenen Wortschatz sagt? Naja, zumindest wissen meine deutschen Freund*innen, woran sie bei mir sind. Gehe ich beispielsweise mit einer Freundin shoppen und sie fragt mich nach meiner Meinung zu einem Kleiderstück, und ich antworte "fantastisch", dann ist es schwer, darin keinen sarkastischen Unterton herauszuhören. Sage ich "Oh, das ist aber cool", dann weiß sie, es steht ihr.

Was ich gelernt habe: In den USA ist ein Overkill an Euphorie und Begeisterung so gut wie unmöglich und ich verbringe viel Zeit, über meinen kümmerlichen Wortschatz nachzudenken.

6. Ich bin kreativer geworden

Bevor ich in die Vereinigten Staaten gekommen bin, habe ich hier und da beim Telefonieren auf ein Blatt Papier gekritzelt und meinen Terminkalender mehr oder weniger aktuell gehalten. Manchmal waren bei Zeitschriften ein paar Sticker dabei und ich habe sie in Briefen an die Oma liebevoll untergebracht, doch kam es mir niemals in den Sinn, daraus eine ernst zu nehmende Kunst zu machen. In meiner Vorstellung galt unter dem Begriff Kunst bisher nur Malerei, Musik und ganz Ausgefallenes, wie dreifache Salto-Trapezkünstler*innen auf einem brennenden Einrad.

Doch ich habe US-amerikanische Freund*innen, die ihre Terminkalender aufwendig gestalten, ihre Tagebücher in mühevoller Kleinarbeit selbst herstellen und elegant verzieren, sogar geschmackvolle Sticker kreieren und so ist auch mein Kindheitshobby wieder aufgeblüht. Die US-Amerikaner*innen machen wirklich aus allem eine Kunst und aus allem Geld.

Was ich gelernt habe: Sogenanntes Scrapbooking, Journaling und Planning kann, wie damals als Kind, richtig Spaß machen. Es ist überhaupt nicht seltsam, als Erwachsene*r mit Stickern seinen Terminkalender zu verschönern und das dann auf Pinterest oder Instagram zu posten. Auf dieser Seite des Planeten gibt es nämlich Menschen, die sich von noch so unscheinbaren, kleinen Dingen inspirieren lassen und im Grunde ist das schon eine Kunst für sich.