"Mir geht es gut, danke. Und du siehst toll aus." Wir wissen beide, dass ich lüge, natürlich. Wir haben uns so sehr daran gewöhnt, dass wir darüber hinwegsehen. Das sind die kleinen Lügen des Alltags. Angeblich lügen wir 200 Mal am Tag und würden einander anders gar nicht mehr ertragen. Aber machen Alltagslügen irgendetwas besser? Eigentlich nicht.

Lügen sind eine Frage der Definition

Wo fängt die Lüge an? "Von einer Lüge spricht man nur dort, wo ein ernsthafter Verstoß gegen die Sitten gesehen wird", schreibt irgendwer bei Wikipedia. Dann sind die kleinen Lügen vielleicht gar keine Lügen? Wobei: Auch Sitten unterliegen der Definition. Und wessen Sitten sollen gelten? Wann ist meine Lüge klein genug, damit sie kein ernsthafter Sittenverstoß mehr ist? Mit dieser Definition kommen wir nicht weiter.

Unsere Alltagslügen sind umfassend erforscht, mit unterschiedlichen Ergebnissen. 200 sind es jedenfalls nicht – woher auch immer diese Zahl stammt. Kein Forscher will's gewesen ein. Robert Feldman von der Universität Massachusetts sagt, in den ersten Minuten nach dem Kennenlernen lügen wir drei Mal. Mindestens. Der frühere Regensburger Psychologe Helmut Lukesch kommt hingegen nur auf 1,8 Lügen am Tag. Und das funktioniert: Gute Lügner sind beliebter und wirken kompetent. Sicheres Auftreten bei völliger Verlogenheit.

Lukesch versteht unter eine Lüge "der Ausdruck einer subjektiven Unwahrheit mit Ziel und Intention, im Partner einen falschen Eindruck zu schaffen oder zu erhalten". Achso. Einen "falschen Eindruck". Ich habe da meine Zweifel.

Lügen sind eine taktische Waffe geworden

Den Klassiker der Alltagslüge kennt gefühlt jede*r. Er geht so:

"Wie geht es dir?" (Es interessiert mich nicht, aber ich muss ja aus Höflichkeit fragen. Also?)

"Danke, gut." (Das geht dich aber sowas von gar nichts an, wie grässlich mein Tag ist.)

Heute sind Lügen mehr: Sie sind eine taktische Waffe geworden, zur Vermittlung der Wahrheit, ausgerechnet. Wir wollen Aufmerksamkeit. Wir wollen, dass sich jemand um uns sorgt. Und dafür manipulieren wir skrupellos, die Waffe ist unsere eigene Verletzlichkeit:

"Wie geht es dir?" (Wie geht es dir?)

"Danke, gut." (Schau dir mein trauriges Gesicht an! Die schwindende Energie in meinen Augen. Und jetzt frag gefälligst nochmal!)

Fast gleich, nur ein bisschen anders:

"Du siehst toll aus."

Verdammt, du siehst echt sowas von gar nicht toll aus. Aber soll ich die Böse sein, die dir die Nachricht überbringt? Dann magst du mich nicht mehr und ich will doch gemocht werden. Also belüge ich dich. Besser wird unser Leben dadurch nicht. Aber wenigstens bleiben wir – was? Freunde? Eine tolle Freundin bin ich.

Praxisübung: Ehrlichkeit für Anfänger

Die Lügen, die Manipulationen, sie sind ein Schutzwall, den wir errichten. Wer lügt, sperrt sich selbst ein, macht sich unsichtbar und schickt sauber dosierte Quäntchen von Wahrheit an die Außenwelt, die anderen sollen dann bitte erraten, was los ist. In dunklen Stunden meldet sich der Gedanke: Keiner kennt mich wirklich. Oh bitte, eine Runde Mitleid. Keiner kennt dich wirklich – weil du dich ständig verstellst!

Der Philosoph Immanuel Kant sagte über Lügen, sie würden "die Allgemeinheit vernichten". Mag sein, vor allem aber vernichten sie den Bezug zu uns selbst. Das kann etwas Positives sein, wenn wir uns selbst einreden, es gehe uns gut, lächeln, aufrecht gehen, durchhalten. Auch das ist erforscht.

Doch die Alltagslügen senden widersprüchliche Signale an uns und unser Gegenüber. Wer schlecht lügt, der signalisiert sich selbst: Ehrlich bin ich nicht gut genug.

Und der*die Partner*in spürt die Lüge, wer uns liebt, der ertappt uns sofort. Und muss sich fragen: Steckt etwas hinter dieser Lüge? Manipulieren wir? Vertrauen wir nicht genug? So haben wir durch einen Ruf nach Aufmerksamkeit unsere Beziehung zu einem Menschen beschädigt, dem wir am Herzen liegen und der uns am Herzen liegt. Oder wir haben mit unserer Hoffnung, lieb gehabt zu werden, unsere Freundin belogen – obwohl sie in dem Kleid wirklich aussieht, wie eine Presswurst nach Ablauf des Haltbarkeitsdatums.

Freunde sollten ehrlich sein, erstens. Zweitens: Freunde sollten Ehrlichkeit aushalten. Das üben wir jetzt mal, bitte laut vorlesen:

Du kriegst dein Buch wahrscheinlich nie wieder. Es sei denn, du erinnerst mich daran. Ich will nicht zum Mexikaner, ich möchte heute lieber indisch essen und dazu sechs Bier trinken und hinterher rauchen. Ich hab deine Nachricht gesehen, aber ich war abgelenkt. Ich habe keine Lust, dir beim Umzug zu helfen. Nein, das Kleid steht dir nicht. Mein Tag war furchtbar, aber wenn ich jetzt darüber rede, wird es noch schlimmer. Deine Meinung ist mir egal, nimm mich einfach in den Arm.

War das jetzt so schlimm?