Montag, 7:45 Uhr. Erste Stunde: Mathematik. Kann die Woche schöner starten? Während der Lehrer vorne mit den beiden Strebern der Klasse über die Polynomdivision diskutiert, schreibe ich in der letzten Reihe noch schnell zur Sicherheit die Hausaufgaben ab. Der Rest des Kurses ist schon wieder auf dem Weg in den Tiefschlaf oder stalkt unterm Tisch Snapchat-Storys.

Ich für meinen Teil habe den Versuch, Mathe zu verstehen, ab der siebten Klasse aufgegeben. Eher weniger, weil es mich überforderte, sondern weil ich bis heute nicht verstanden habe, wofür ich die binomischen Formeln oder den Differenzialquotienten in meinem Leben brauche – außer für den Matheunterricht.

Wer wie ich im Unterricht über solche Fragen nachdenkt, merkt, dass eigentlich das gesamte Bildungssystem überholt ist und seinen eigentlichen Zweck – den von Bildung, Perönlichkeitsentwicklung und Wertevermittlung – total verfehlt.

Leistungsdruck und lebensfernes Wissen

Unzählige Schüler*innen leiden heute unter einem Burn-out, einer Depression und manche haben sogar Suizidgedanken. Junge Menschen, die in der Schule fürs Leben lernen sollen, brechen zusammen; das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen. Laut Psychiater und Autor Michael Schulte-Markwort kommen diese psychischen und physischen Probleme mittlerweile bereits bei Jugendlichen und Kindern vor, die eine, wie er sagt, ausreichende Intelligenz besitzen und den normalen Anforderungen entsprechen.

Weil wir aber in einer Leistungsgesellschaft leben, werden auch wir Schüler*innen auf Leistung optimiert und reduziert. Was haben wir schon für Chancen mit einer Fünf in Mathe und Chemie? Wir können noch so kreativ oder sprachgewandt sein, aber trotzdem müssen wir unsere Energie zu großen Teilen in Fächer stecken, an denen wir kein Interesse haben – und in überflüssiges Wissen, welches wir eigentlich nur für die nächste Klausur brauchen.

Ja, natürlich brauchen wir in allen Bereichen ein Grundwissen. Doch persönlichkeitsfördernde Fächer und Themenbereiche wie Psychologie, Theaterspiel oder Sexualität fehlen komplett oder werden wie Sport, Musik, Kunst und Philosophie nur zweitweise unterrichtet beziehungsweise im Notfall ganz ausgelassen. Auch nach praktischen Skills – wie schließe ich eine Versicherung ab, wie eröffne ich ein Bankkonto oder welche Rechte und Pflichten habe ich als Bürger*in –, die heutzutage unverzichtbar geworden sind, kann man im Stundenplan lange suchen.

Die Schule hat die Aufgabe, uns in allen wichtigen Bereichen zu lehren und uns auf unsere Zukunft vorzubereiten. Doch Lern- und Lebensinhalt stimmen kaum noch überein. Von den jetzigen Bildungsinhalten bleibt bei den meisten am Ende nichts übrig. Durch das viele unnütze Wissen verlieren wir Schüler*innen unsere Lust und Neugier, die Welt verstehen und gestalten zu wollen.

Also, weshalb füllen wir unser Gehirn in seiner besten Lernphase mit so viel Schwachsinn?

Was lernen die, die uns lehren sollen, eigentlich?

Neben dem unnützen Wissen sind Lehrende Aufregerthema Nummer Eins in den Schulen. Was ich in meinen zehn Jahren Schule bisher erlebte: Motivation und Lob sind für die meisten von ihnen Fremdwörter. Viele können nicht einmal mit den Befindlichkeiten von Kindern und Jugendlichen umgehen oder einen sinnvollen Unterricht strukturieren. Das ist fatal, liegt es doch hauptsächlich an Lehrenden und deren Art, so zu unterrichten, dass Schüler interessiert bei der Sache bleiben und von ihnen lernen wollen. Da fragt man sich schon: Warum wird da nicht vorher stärker geprüft, wer wirklich für diesen Beruf geeignet ist?

Lehrende tragen den größten Anteil an Erfolg und Misserfolg ihrer Schüler*innen. Doch viele sind damit völlig überfordert. Ihr Beruf gehört zu denen mit den meisten Burn-out-Patient*innen. Kein Wunder: Sie müssen zwischenmenschliche Extremsituationen meistern und Lehrpläne in rasanter Geschwindigkeit durchpeitschen, und zwar alles gleichzeitig.

Insgesamt muss der Unterricht viel umfangreicher und abwechselnder gestaltet werden. Die Klassen müssen öfters raus aus den maroden, heruntergekommenen, dunklen Schulen und an die Orte des Geschehens. Biologieprojekte im Wald, Geschichte im Museum, Politik im Landtag. Die Möglichkeiten sind grenzenlos.

Zudem haben die meisten Lehrenden immer noch nicht das Potenzial des Internets entdeckt. In wenigen Sekunden könnten so Expert*innen über Schicksale aus aller Welt zu allen Themen im Klassenzimmer anschaulich und aus erster Hand berichten. Neben der Aufklärung von Risiken im Internet, könnten sich Schüler*innen durch das Netz bestimmte Themenbereiche näher bringen und verständlicher erklärt bekommen, etwa durch YouTube-Tutorien oder Blogs. Schüler*innen dürfen nicht von der Theorielast erdrückt werden, müssen zum Nachdenken und Kritisieren angeregt werden.

Lebensglück ist nicht vom NC abhängig

Werte und Umgangsformen bestimmen unser Leben in einem großen Maße, doch kommen sie in der Schule viel zu kurz. Respekt und Zivilcourage, Solidarität und Hilfsbereitschaft sind nicht nur Teil und Aufgabe der familiären Erziehung, sondern auch der Schule. Nach zehn Jahren als Schüler würde ich sogar sagen, dass in den Schulen Potenzial, Kreativität, Lebenslust und Gemeinschaftssinn verschwendet und zum Teil sogar vernichtet werden. Wir hängen diesbezüglich immer noch im 19. Jahrhundert fest. Damals wollte der Staat mit seinem preußischen Bildungssystem unkritische und möglichst gleiche Bürger*innen heranziehen, die Befehle befolgen und sich an Beamtendisziplin und Hierarchien halten.

Bis heute sind die Schulen diesem Motiv in weiten Teilen treu geblieben und befördern uns nicht auf unserem Lebensweg. Im Gegenteil, sie halten uns auf dem Weg zu Glück und Individualität eher auf. Frei nach dem Motto: Sei einzigartig, aber bloß nicht anders. Wer anders ist, passt nicht ins Raster. Jedoch muss eine Schule gleichzeitig Wertevermittler sein und uns lehren, Fremdes und Andersartiges zu akzeptieren.

Wir müssen vor dem Berufsleben außerdem lernen, Konflikte und Misserfolge zu bewältigen. In Wahrheit wissen alle, dass das und der Umgang mit unseren Mitmenschen und der Umwelt wichtiger sind als Trigonometrie oder Dramenanalyse. Ich finde, wer hilfsbereit ist, kann sich besser in die Gesellschaft einbringen als jemand, der*die zwar einen Einserschnitt im Abi hat, aber eben nicht hilfsbereit ist. Trotzdem wird uns Schüler*innen von Tag eins an eingetrichtert, das Lebensglück sei vom NC abhängig. Das geht beim Studium dann gerade so weiter.

Ich beklage außerdem, dass wir im 21. Jahrhundert leben und es immer noch keine echte Chancengleichheit im Bereich Bildung gibt. Es entscheidet immer noch zu oft über die Aufstiegschancen der Kinder und Jugendlichen, ob sie einen Migrationshintergrund haben – oder Eltern aus sozial schwächeren Schichten. Dazu gehören unter anderem auch die Nachhilfekosten und Studiengebühren, die verdeutlichen, dass Geld bei der Bildung eine viel zu große Rolle spielt.

In unmittelbaren Zusammenhang mit der Chancenungleichheit stehen die frühen Ausleseprozesse. Schon mit etwa elf Jahren wird über die Zukunft eines Kindes entschieden. Das ist schlicht zu früh, denn durch die vielen Barrieren unseres Schulsystems ist es für Hauptschüler*innen quasi undenkbar, Abitur zu machen.

Wir könnten das ändern, wenn wir denn wollten

Das Schlimmste an all dem ist die Zeit, die uns genommen wird. Am Ende ist es fast die ganze Jugend, die doch so oft gepredigte beste Zeit des Lebens, um die wir mit Ableitungsfunktion und Proteinbiosynthese beraubt werden.

"Es kann doch nicht sein, dass wir auf der einen Seite immer länger leben, aber ausgerechnet die erste Phase des Lebens unserer Kinder und Jugendlichen dermaßen beschleunigen", bringt es der Physiker und Moderator Harald Lesch in seinem Videoblog auf den Punkt. Als junger Mensch möchte man raus, die Welt entdecken. Aber uns sperrt man jeden Tag bis spät nachmittags in ein Gebäude und erwartet, dass wir nach zehn oder zwölf Jahren verstehen würden, wie das Leben da draußen abläuft. Nein, nichts haben wir verstanden.

Und wenn ich dann wieder im Unterricht sitze und über Schule, Gott und die Welt nachdenke, frage ich mich, weshalb wir Schüler*innen uns so unterdrücken lassen. Ich glaube, dass die meisten gar nicht darüber nachzudenken wagen, zu was ein neues Bildungssystem im Stande wäre – und den Status quo aus Lustlosigkeit und Gemütlichkeit lieber hinnehmen. Womöglich haben wir den Glauben daran verloren, etwas verändern zu können.

Aber wir sind immerhin elf Millionen Schüler*innen in Deutschland. Und elf Millionen Menschen haben die Macht, ein System zu verändern.