1. Warum will die AKP die türkische Verfassung ändern?

Nach ihrer Verfassung ist die Türkei ein "demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat" und definiert sich selbst als parlamentarisches System. Obwohl die Verfassung seit der Gründung der Republik existiert, wurde sie nach dem Militärputsch 1980 grundlegend verändert, weshalb schon Regierungen vor der AKP die Verfassung kritisierten.

Die konservativ-islamische AKP verfolgt jedoch seit Machtantritt die Agenda, das Selbstverständnis der Türkei zu verändern, weshalb sie in den letzten zehn Jahren immer wieder Versuche unternommen haben, die Verfassung zu kippen. Eine Verfassungsänderung bedarf aber einer Zweidrittelmehrheit im Parlament und eine einfache Mehrheit beim Volksentscheid, weshalb es ihr bis heute nicht gelang.

Nun hat die AKP zusammen mit der nationalistischen Milliyetçi Hareket Partisi (MHP) ein Paket im Parlament verabschiedet, welches ihr Ziel endlich umsetzen soll, falls das Volk im anstehenden Volksentscheid zustimmt.

2. Was ändert sich?

Rein technisch ändern sich nur einige Artikel der Verfassung: insbesondere die Artikel, welche die Aufgabenbereiche des Präsidenten bestimmen. Das Paket gibt dem Präsidenten mehr Rechte als zuvor. Er kann damit ein Präsidialsystem einführen: Das Amt des Premierministers wird abgeschafft, womit der Präsident zum alleinigen Staatsoberhaupt wird und die politische Macht in sich vereint. Der Präsident wird damit zum Staatsoberhaupt, Regierungsoberhaupt und Parteiführer zugleich. Er ist somit nicht mehr überparteilich und neutral, sondern repräsentiert zugleich die politische Ideologie seiner eigenen Partei.

3. Das ist in den USA auch so, warum regen sich alle auf?

Wenn das Referendum durchgeht, kann die Macht des Präsidenten kaum durch andere Akteur*innen und institutionelle Mechanismen begrenzt werden. Daher ist die vorgeschlagene Verfassungsänderung kaum mit dem US-amerikanischen Präsidialsystem vergleichbar.

Beispielsweise kann der Präsident nur für seine Taten vom Verfassungsgericht zur Rechenschaft gezogen werden, wenn eine absolute Mehrheit im Parlament eine Untersuchung erwünscht. Ob die Entscheidung des Verfassungsgerichtes angeprangert werden kann, geht aber aus dem Text nicht hervor. Zudem kann der Präsident für sechs Monate den Ausnahmezustand ausrufen, welches bei andauernder Ausnahmesituation für weitere vier Monate unbegrenzte Male erneuert werden kann. Unter dem Ausnahmezustand regiert der Präsident das Land per Dekret und kann Gesetze eigenständig und ohne Zustimmung des Parlaments verabschieden.

5. Was passiert denn dann mit dem Parlament und dem Premierminister?

Das Parlament wird es zwar noch geben, einen Premierminister allerdings nicht. Trotz der Aufhebung seines eigenen Amtes wirbt sogar Premierminister Binali Yıldırım um Stimmen. Das Parlament wird es aber auch nach der Verfassungsänderung geben, allerdings mit einem limitierten Aufgabenbereich. Außerdem kann das Parlament jederzeit durch den Staatspräsidenten aufgelöst werden.

6. Ist das noch eine Demokratie?

Naja, solange es noch freie Wahlen gibt und ein Regierungswechsel stattfinden kann, ist rein technisch die minimale Voraussetzung erfüllt, ein Regime als Demokratie zu bezeichnen. Allerdings ähnelt das eher dem Demokratieverständnis von Regimen wie Russland und Co., in dem die Opposition systematisch ausgestaltet, die Justiz kontrolliert und die Zivilgesellschaft bewacht wird. Aus westlicher Perspektive kann man die Türkei daher nicht mehr als Demokratie bezeichnen. Für die AKP-Wählerschaft reichen Wahlen aber aus, um die AKP als demokratisch gewählte Regierung wahrzunehmen.

7. Wer sind die Evet-/Ja-Sager und warum stimmen sie für die Verfassungsänderungen?

Die Ja-Sager befürworten mehrheitlich den Präsidenten Erdoğan und werden wahrscheinlich aus der Wählerschaft der AKP und zum Teil aus den anderen nationalistischen Lagern kommen. In den Augen der Evet-Wähler*innen haben Recep Tayyip Erdoğan und seine AKP in den letzten Jahren alles richtig gemacht: das säkulare Militär entmachtet, interne politische Feinde ausgeschaltet und die Türkei vor einem Putsch bewahrt. Sie messen seinen Erfolg an seinen Taten und befürworten auch seine Nahost-Politik, in der Erdoğan sich immer wieder als großer Advokat des Nahen Ostens präsentiert. Sie wünschen sich eine neue, konservative und auf der Bühne der Weltpolitik starke Türkei. Somit geht es weniger um die vorgeschlagenen Änderungen, sondern um die Unterstützung Erdoğans mit Wahlstimmen.

8. Wer sind die Nein-/Hayır-Sager und warum stimmen sie gegen die Verfassungsänderungen?

Zu den Nein-Sagern gehören Anhänger*innen der beiden großen Oppositionsparteien CHP und HDP, sogar ein abgespaltener Flügel der MHP, eine eigens nur für das Referendum vom einem Ex-AKPler gegründete Nein-Partei und etliche andere politische Gruppen und Minderheiten der Türkei, die dagegen sind, die politische Macht auf eine Person zu übertragen. Die Opposition hatte es allerdings nicht einfach in den letzten Jahren, weshalb sie kaum Möglichkeiten hat, öffentlich für ein Nein zu werben. Beispielsweise hat Präsident Erdoğan alle Nein-Sager als Terrorunterstützer*innen abgestempelt, während Bürger*innen, die für ein Nein auf den Straßen Istanbuls, Izmirs und Ankaras warben, festgenommen wurden.

9. Was würde Atatürk dazu sagen?

Der fände das wahrscheinlich alles gefährlich. Als er und seine Kamerad*innen nach dem türkischen Unabhängigkeitskrieg die Grundsätze für die Türkei formulierten, hatte er das parlamentarische System für gut und richtig gehalten. Eine Präsidialdemokratie hatte Atatürk nicht im Sinn. Obwohl Atatürk im Einklang mit dem damaligen Zeitgeist und dem Ziel, nationale Einheit zu kreieren, die Republik mit relativ autoritären Methoden gründete, betonte er immer wieder, die zentrale Rolle des Parlaments.

10. Was bedeutet das für die in Deutschland lebenden Türken?

Nichts. Denn die in Deutschland lebenden Türken leben unter der deutschen Verfassung, dem Grundgesetz. Dementsprechend hat die türkische Verfassung keine Bindung für die türkischen Staatsbürger*innen, die in Deutschland leben. Allerdings sorgt die Polarisierung zwischen den den Ja- und Nein-Sagern, sowie den etlichen anderen Gruppen der türkischen Gesellschaft auch in der Diaspora für eine tiefe politische Spaltung.

11. Was tun?

Abstimmen gehen! Es sind nur noch einige Tage übrig, um über die Zukunft der Türkei, wie wir sie kennen, bestimmen zu können.