In der Artikelreihe "Wie reden wir eigentlich miteinander?" beschäftigen wir uns mit verschiedenen Formen und Theorien der Kommunikation. Viele dieser Methoden werden beispielsweise in der Psychologie gelehrt – oft sind sie so simpel wie logisch. Sie lassen sich ohne Aufwand in unser tägliches Leben integrieren. Wir von ze.tt denken, dass eine vernünftige Debattenkultur wichtig für unser Miteinander ist.

Mein Gegenüber spricht. Ich will ja zuhören. Ich höre seine Stimme, ich sehe, dass sein Mund sich bewegt, aber in Wahrheit höre ich schon lange nicht mehr wirklich hin. Ich bin mit mir selbst, meinem Arbeitstag, meinen Problemen, meinem Stress beschäftigt. Ich bin nach wenigen Minuten ausgestiegen, angespornt durch einen bestimmten Satz, ein Wort oder ein Teil des Gesprächs, und denke über mich selbst nach. Nicht über mein Gegenüber.

Im Alltag kommt das fast schon beängstigend oft vor. Wenn ich in Diskussionen und Konflikten nicht richtig zuhöre, führt das nicht selten zu eskalierenden Streits am Thema vorbei. Weil ich eben zu wenig auf das Gegenüber achtete und zu sehr mit mir, meiner Meinung und reaktiven Gegenargumenten beschäftigt bin. Wenn ich im Nachhinein über solche Momente nachdenke, merke ich, wie destruktiv das ist.

Und wenn ich diese Eigenarten auch noch im Kontext mit der aktuellen Debattenkultur über Politik setze, macht es das sogar ziemlich fatal. Weil es nur zu Verhärtung führt, nie zum Kompromiss. Schaue ich mir etwa ein Video des Schauspielers Shia LaBeouf nach Donald Trumps Amtsantritt an, wird mir noch klarer, dass so definitiv keine Lösung entstehen kann.

Kürzlich appellierte Michail Gorbatschow an die Vernunft unserer Staatsoberhäupter. Er schrieb, dass derzeit wenig wichtiger wäre als ein gesunder Dialog, der auf gemeinsame Entscheidungen abzielt. Vermutlich hat er damit nicht Unrecht.

Die wichtigere Hälfte eines jeden Gesprächs

Ich denke, dass viele Menschen ein großes Defizit in ihrer Gesprächskultur haben, gerade in einer politisch so aufgeheizten Zeit wie dieser: aktives Zuhören. Der eigene Redeanteil wird meist als wichtiger erachtet, man möchte sich mitteilen.

Woher das kommt? Wir wachsen so auf, wir kennen es nicht anders. In der Arbeitswelt scheinen nur die Menschen zu gewinnen, die am lautesten und präsentesten sind; man muss überzeugen können, sich durchsetzen, am besten eloquent sein und informativ. "Kommunikationsstärke" wird das in Jobausschreibungen genannt. Und bei TV-Duellen zwischen Politiker*innen wird analysiert, wer den größeren Redeanteil hatte. Überall gilt, so wird es uns suggeriert: Wer viel redet, hat die Oberhand. Das Problem ist, dass wir eben oft aneinander vorbei reden und uns gründlich missverstehen.

Zuhören – im Sinne von voller, aufrichtiger und echter Aufmerksamkeit für unser Gegenüber – sei eine Eigenschaft, die gerne unterschätzt wird, sagt der Anthropologe und Autor William Ury in einem Vortrag für Ted. Wenn wir lernen würden, aufmerksam zuzuhören und uns selbst dann, wenn wir uns provoziert fühlen, zurücknähmen, dann hätten wir in Konflikten ein mächtiges Instrument zur Hand. "Zuhören ist das allerleichteste Entgegenkommen in einer Verhandlung. Es kostet uns gar nichts", sagt Ury, aber es führe dazu, dass unser Gegenüber bereit ist, uns auch besser zuzuhören.

Dazu müssen wir uns zunächst bewusst machen: Wenn ein simples Gespräch 100 Prozent sind, dann sollten davon optimal 50 Prozent aus sprechen bestehen – und die anderen 50 Prozent aus zuhören. Eine Hälfte Informationen geben, die andere Informationen aufnehmen. So weit, so simpel. Spannender ist: Wie höre ich in dieser Zeit aktiv zu? Dazu müsse man sich paradoxerweise zuerst mit sich selbst beschäftigen. Vor wichtigen Verhandlungen und Diskussion sollte man sich laut Ury, der seit über 30 Jahren menschliche Diskussionen erforscht, ein paar Minuten der Stille gönnen und in sich hinein hören: Was treibt mich um? Wie fühle ich mich gerade – und warum? Wer das benennen könne, der könne sich anschließend besser von eigenen Emotionen und Problemen frei machen – und so Platz für die der Gesprächspartner*innen schaffen.

Denn das ist, was aktives Zuhören bedeutet: Es bedeutet, wirklich verstehen zu wollen, was unser Gegenüber uns mitteilen möchte. Also vor allem hören, was nicht ausgesprochen wurde, Motive und Emotionen zu begreifen. Aktives Zuhören ist laut Carl Rogers eine Form der Empathie. Der amerikanische Psychotherapeut entwickelte 1985 das erste wissenschaftliche Modell und verschiedene Leitlinien zum Thema. Zunächst muss demnach eine offene Grundhaltung da sein, man sollte authentisch auftreten, und die Standpunkte seiner Gesprächspartner*innen zunächst positiv beachten.

Zuhören ist nicht passiv

Weitere Punkte, die wir uns laut Rogers für das Aktive Zuhören merken könnten:

  • sich auf das Gegenüber einlassen, konzentrieren und das auch durch Körperhaltung ausdrücken
  • mit der eigenen Meinung zurückhaltend umgehen
  • bei Unklarheiten nachfragen
  • zuhören heißt nicht gutheißen
  • Pausen aushalten, sie können ein Zeichen für Unklarheiten, Angst oder Ratlosigkeit sein
  • auf die eigenen Gefühle achten
  • die Gefühle des Gegenübers erkennen und ansprechen
  • Hin und Wieder mit eigenen Worten wiederholen, was man verstanden hat
  • sich erkundigen, wenn man etwas nicht verstanden hat
  • Geduld haben und das Gegenüber nicht unterbrechen, ausreden lassen
  • Blickkontakt halten
  • sich durch Vorwürfe und Kritik nicht aus der Ruhe bringen lassen
  • sich innerlich in die aktuelle Situation des Sprechers versetzen

Rogers Auflistung zeigt: Echtes Zuhören bedeutet nicht einfach nur lauschen, hinhören oder schweigen. Es ist nicht passiv, sondern ein genauso aktiver Prozess wie der des Sprechens. Wenn wir uns dies einprägen würden, könnten wir in Gesprächen generell für ein positiveres Klima sorgen, sagt Anthropologe Ury, für den aufrichtiges Zuhören der Schlüssel für die Lösung der meisten Probleme sind, zwischenmenschlich sowie sachlich. Mehr noch: Konflikte könnten sich in den meisten Fällen lösen, bevor sie überhaupt entstünden.

Im Ted-Vortrag erzählt Ury von einer Situation mit Venezuelas ehemaligen Präsidenten Hugo Chávez, der 2013 verstarb: Ury war dort Ende 2002 als Botschafter für eine friedvolle Lösung zwischen der Regierung und der Opposition tätig, quasi als dritte Partei. In dieser Zeit war die Situation in dem südamerikanischen Staat extrem aufgeheizt, alles deutete auf einen Bürgerkrieg hin; heute ist das wieder der Fall. Damals hatte Ury einen Termin mit Chávez im Präsidentenpalast. Dieser hatte sein gesamtes Kabinett hinter sich versammelt und fragte Ury aggressiv, was er von der Situation im Land halte. Ury antwortete, dass er mit verschiedenen Ministern gesprochen habe und denke, Chávez mache Fortschritte. Chávez habe daraufhin begonnen zu schreien und beharrte darauf, dass es kein Fortschritt sei, wenn man nur Verräter um sich habe. Er habe sich Ury genähert, wenige Handbreit von dessen Gesicht entfernt, und schrie ununterbrochen. Urys erster Reflex war: Ich muss mich wehren. Doch dann sagte er sich: Das ist der Präsident von Venezuela, also was würde es mir bringen, mich mit ihm zu streiten? Wie sollte das Frieden bringen?

Also schwieg Ury. Er ließ Chávez aussprechen. Und hörte ihm zu. Er gab ihm seine volle Aufmerksamkeit, hörte sich dessen Lebensgeschichte an. Nach etwa 30 Minuten hätten sich Chávez Schultern langsam gesenkt. Er schaute Ury an und fragte in besorgter Tonlage: "Ury, was soll ich denn tun?" Dieser Moment, sagt Ury, habe ihm gezeigt, dass Chávez jetzt auch selbst bereit ist, wirklich zuzuhören. Es war kurz vor Weihnachten: Ury riet ihm, allen Menschen im Land die Weihnachtsfeierlichkeiten und etwas Ruhe zu gönnen, die im vorangegangen Jahr abgebrochen wurden – damit alle im kommenden Jahr einer besseren Verfassung für Verhandlungen seien. Chávez kündigte genau dies in einer kommenden Rede an.

Der Zuhörer ist ein schweigender Schmeichler." – Immanuel Kant

Man stelle sich dazu einmal eigene Streitsituationen vor. Wie oft sind diese eskaliert, nur weil wir nicht dem Drang widerstehen konnten, ebenfalls laut zu werden oder forsch oder abweisend?

Urys Strategie jedenfalls ließe sich auf jegliche, beliebige Streitsituationen in unserem Alltag anwenden, sagt er. Egal, um was es geht: kleine Meinungsverschiedenheiten in der Beziehung, Auseinandersetzungen im Job oder politische Diskussionen mit Menschen anderer Ansichten. Und da kommt wieder die Empathie ins Spiel: Wie soll man in einer Diskussion die Denkweise des Gegenübers ändern, wenn man gar nicht wirklich weiß, wie sie denken?

Indem wir unseren Gegenübern die Chance lassen, sich in aufgeheizten Situationen Luft zu machen, in ihrer Tonalität auszureden, würden diese sich öffnen. Weil sie sich ernst und wahrgenommen fühlten, schließlich liege das Scheinwerferlicht auf ihnen – und das sei für alle Menschen ein schönes Gefühl. Während des Zeterns näherten sie sich oft selbst einer möglichen Lösung, indem sie Unsicherheiten preisgäben. Die Verbindung zwischen den Gesprächspartner*innen würde größer.

Wir würden dadurch gegenseitiges Vertrauen und die Bereitschaft, Kompromisse zu finden und gegenteilige Meinungen anzunehmen, schaffen. Zeitgleich gewännen wir die Zeit, ein fundierteres, tiefergehendes und stichhaltigeres Argument zum Thema zu liefern. Indem wir einfach den richtigen Moment abwarten und in dieser Zeit aufmerksam zuhören und uns einfühlen, schärften wir unsere Argumente automatisch. Insofern bringt aufrichtiges Zuhören uns selbst vielleicht sogar am meisten, denn:

  • Wer aufrichtig zuhört, erfährt mehr und kann so bessere Entscheidungen treffen.
  • Wir sind so in der Lage, Wichtiges von Unwichtigem unterscheiden – und dies anschließend auch entsprechend kommentieren. Andersherum funktioniert das nicht.
  • Wir geben dem Gesprächspartner das Gefühl, respektiert und wertgeschätzt zu werden und helfen ihm, sich besser zu fokussieren.
  • Wir helfen uns selbst dabei, uns besser zu fokussieren und werden mehr respektiert und wertgeschätzt.

Ein zwischenmenschlicher Konflikt auf Basis gegenseitiger Vorwürfe wäre dadurch schier unmöglich. Bemerkenswert, wie logisch das eigentlich ist, oder?

Eine Revolution des Zuhörens

Die Erkenntnisse der Wissenschaftler*innen decken sich übrigens auch mit den Kriterien, welche die Deutschen bei guten Gesprächen für besonders wichtig erachten: 80 Prozent gaben in einer repräsentativen Umfrage von 2016 "Zuhören" an. Noch vor "Ehrlichkeit" oder "Höflichkeit" und weit vor "angemessener Wortwahl". Alle Menschen wünschen sich, dass man ihnen wirklich zuhört – und wir wissen, wie gut es sich anfühlt, wenn ein Wunsch erfüllt wird.

Zum Schluss noch eine gute Nachricht. Wir können aufrichtiges Zuhören üben. Und zwar ab jetzt sofort, in jedem folgenden Gespräch, in jeder kommenden Diskussion. Ich übe es seit einiger Zeit bereits aktiv – und habe schon positive Erfahrungen gemacht: Kürzlich saß ich mit einem guten Freund in einer Kneipe. Er war angepisst, der Abend verlief nicht so, wie er sich das wünschte. Er hatte keine Lust auf gemütliches Kneipenhopping, er wollte ordentlich feiern. Er wurde fordernd, machte das bei jeder Gelegenheit klar, ein lockeres Gespräch schier unmöglich. In einem Moment dann, an dem er wieder kotzig über den Abend wurde, hätte ich ihm normalerweise Paroli geboten. Aber diesmal blieb ich bewusst still. Ich ließ ihn aussprechen, ohne ihm dazwischen zu grätschen, wie ich es sonst tun würde.

Er sprach etwa drei Minuten ungestört, ich hörte zu und versuchte mir vorzustellen, wie es gerade ihn ihm aussieht. Und: Ich habe gemerkt, dass die Kneipe nicht sein eigentliches Problem war. Als er fertig war, habe ich ihm meine Erkenntnis ruhig und mit einem verständnisvollen Argument geschildert. Es half. Wir konnten uns anschließend ehrlich und respektvoll aussprechen. Ich habe mich in diesem Moment zurückgenommen und dachte, ich hätte das für ihn gemacht; tatsächlich hat es uns beiden geholfen. Wir haben uns und unsere Standpunkte besser verstanden. Und vor allem haben wir uns nicht, wie wir sonst getan hätten, sinnlos gestritten.

Also: Es genügt, heute Abend einfach mal zu versuchen, sein Gegenüber komplett aussprechen zu lassen. Und sich währenddessen ganz auf ihn, das Thema und seine Meinung einzulassen, ganz egal, wie nichtig oder falsch wir selbst das erachten. Der positivste Effekt daran: Unsere Gesprächspartner*innen werden unterbewusst spüren, wie gut es ihnen und dem Gespräch tat, dass wir wirklich zugehört haben. Und es beim nächsten Gespräch vielleicht selbst versuchen.

Vielleicht lösen wir so ja eine Revolution des Zuhörens aus. Unserer Debattenkultur täte das sicher gut.