Neulich sah ich eine Doku, in der Nachbarn sich protestierend für eine Familie einsetzen, die aus ihrem Haus geklagt worden war. Mein erster Gedanke: Wenn einer meiner Nachbarn auf Grund einer Notlage ausziehen müsste – ich würde es nicht mal bemerken; die meisten kenne ich nur durchs Pakete Annehmen. Mein zweiter Gedanke: Das kann doch so nicht richtig sein.

Früher, noch zu Zeiten meiner Großeltern, lebten Menschen in Gemeinschaften, beispielsweise in Großfamilien oder Dörfern. Sie waren dadurch zwar einer stärkeren Sozialkontrolle unterworfen, wurden aber eben auch besser unterstützt und aufgefangen. Die gesamte Entwicklung der Menschheit war in dieser Form überhaupt erst möglich, weil unsere Gehirne so hervorragend über Vernetzung funktionieren.

Wir gehören in Gruppen

Das sieht auch Buchautor ("Und ich? Identität in einer durchökonomisierten Gesellschaft") und Psychoanalytiker Professor Paul Verhaeghe so: "Biologisch betrachtet gehören wir zu einer sozialen Spezies, was bedeutet, dass für uns das Leben in einer Gruppe vorgesehen ist. Welche Form diese Gruppe hat, wie viele Mitglieder sie haben sollte, das ist eine kulturelle Frage. Wenn man ein vereinzeltes Individuum aus einer sozialen Spezies sieht, gibt es nur zwei Erklärungen: Es ist krank oder ausgestoßen, üblicherweise beides."

Was also stimmt nicht mit uns?

In Deutschland steigt die Zahl der Single-Haushalte seit 20 Jahren immer weiter. Über 16,8 Millionen Menschen leben laut dem Statistischen Bundesamt inzwischen ganz allein, das ist mehr als ein Fünftel der Gesamtbevölkerung! Der weitere Großteil lebt höchstens zu zweit, während gleichzeitig die Zahl der größeren Haushalte schrumpft.

Vor allem in Städten leben Menschen in Kleinsteinheiten. Zum Beispiel in Berlin, Bremen und Hamburg – dort wohnen in über 80 Prozent der Haushalte maximal zwei Personen. Aus dieser sozialen Verkleinerung entsteht sogar ein neuer Immobilientrend: "Mikroapartments" in einer Größe von etwa 20 Quadratmetern. Branchenbeobachter nennen sie wegen der großen Nachfrage auch "Gelddruckmaschinen".

Doch egal, ob durch Umzug fürs Studium, wegen eines Jobwechsels, durch Trennung von oder Verlust des Partners oder der Partnerin – immer mehr von uns sind immer mehr allein. "Die Gesellschaft wirkt auf Vereinzelung hin", meint auch die Diplom-Psychologin und Autorin Dr. Eva Wlodarek ("Einsam. Vom mutigen Umgang mit einem schmerzhaften Gefühl").

Diese Isolierung ist neu in der Geschichte

Wie genau diese Entwicklung sich im Detail auswirkt, kann darum momentan noch niemand vollständig absehen. Klar ist aber schon jetzt: Sie hat enorme Nachteile.

Zwar gibt es Menschen, die bewusst mehr Anonymität und Autonomie suchen und zum Beispiel von der geringeren Sozialkontrolle außerhalb einer Gruppe profitieren, sich dadurch also freier entfalten und fühlen können – aber ein großer Teil ist eben unfreiwillig allein und fühlt sich dadurch einsam.

"Alleinsein bildet einen sichtbaren Kontrast zum Kontakt mit anderen Menschen, Einsamkeit dagegen ist eine schmerzhafte Empfindung (...) unabhängig davon, ob Menschen um uns herum sind oder nicht", erklärt Dr. Wlodarek den Unterschied zwischen beiden Zuständen.

Was macht diese Einsamkeit mit uns?

Wir Menschen bräuchten eine Gruppe, zu der wir uns zählen könnten. "Sie spielt eine große Rolle für unsere Identität (...) Außerdem fühlen wir uns in einer Gruppe geborgen. Hier werden wir getröstet und aufgefangen, hier können wir unsere Freude und unsere Erfolge teilen. Wenn wir dagegen einsam sind, stehen wir außerhalb der Gruppe und unser Grundbedürfnis nach Nähe, Geborgenheit und Austausch bleibt unerfüllt", sagt Dr. Eva Wlodarek. Das ginge an unsere Substanz, weil es einen zentralen Kern des Menschseins berühre.

Und zwar so nachhaltig und tiefgreifend, dass ganze Generationen einfach nicht mehr klarkommen. "Heutzutage sehen wir uns einer Welle von Depressionen und Angststörungen bei Erwachsenen (...) gegenüber. Soziale Ängste bei Erwachsenen stellen im Westen – obwohl eine der sichersten Regionen der Welt – gegenwärtig ein ernstes Problem dar", schreibt auch Professor Verhaeghe in seinem Buch.

Menschen, die isoliert, einsam und ängstlich sind, leiden. Und sie zweifeln an sich selbst. "Unsere Einsamkeit erscheint uns als persönlicher Makel", sagt die Diplom-Psychologin. Nicht wenige versuchen, dieses vermeintliche Versagen durch Konsum zu kompensieren – Essen, Online-Shopping, Serien-Bingewatching. Kommt euch bekannt vor? Willkommen im Club.

Einsam? Prima, komm kaufen!

Für die Wirtschaft sind Einsame am nützlichsten: Sie zahlen mehr Steuern, sie konsumieren mehr von allem, sie zahlen mehr für Wohnraum. Ihr vergeblicher Versuch, Selbstzweifel zum Schweigen zu bringen und eine schmerzende Leere zu füllen, wirkt sich nur auf eines positiv aus: das Bruttosozialprodukt.

"Uns fehlt ständig etwas, das ist der Grundton des menschliches Zustandes. Unsere gegenwärtige Konsumkultur will uns aber davon überzeugen, dass es immer eine Antwort gibt, die man kaufen kann. Das ist jedoch einfach nicht wahr", stellt Professor Verhaeghe klar.

Unser neoliberales Wirtschaftssystem habe uns eingetrichtert, dass jede*r ein*e Konkurrent*in im umfassenden Lebenskampf sei. "Dem anderen darf ich nicht vertrauen, also muss ich Abstand halten. Jeder muss es schaffen, muss perfekt und erfolgreich sein. So eine Ideologie erzeugt Egoismus und soziale Ängste und dadurch auch Einsamkeit." Kurzfristig würden laut Paul Verhaeghe multinationale Konzerne und Banken davon profitieren und wir darunter leiden. Langfristig müssten Lösungen her.

Denn eine Gesellschaft, die Isolation fördert, schade sich selbst, sagt auch Eva Wlodarek. "Wenn Wärme, Zuwendung und Kontakt fehlen, erhöht sich die Gefahr für körperliche Krankheiten und Depressionen." Und vor allem: "Unglückliche Menschen sind auch politisch leichter manipulierbar."

Aber wie geht es anders?

Man könne unter anderem versuchen, äußere Bedingungen zu schaffen. Mehrgenerationenhäuser als Ersatz für die Dorfgemeinschaft zum Beispiel. "Als Psychologin sehe ich aber auch Menschen, die unter Einsamkeit leiden, in der Selbstverantwortung", sagt Dr. Wlodarek. "Nicht warten, bis andere auf einen zukommen. Zuerst geben, was man haben möchte, etwa Unterstützung, Wertschätzung, Einladungen." Das ist das, was jede*r von uns sofort tun kann.

Aber natürlich gibt es da auch noch die gesamtgesellschaftlichen Aspekte. Professor Verhaeghe: "Ich gehe von zwei möglichen Entwicklungen aus. Eine schlechte, in der europäische Staaten sich einer zeitweiligen Form von Faschismus und Nationalismus zuwenden. Und eine gute, in der sich Wirtschaft und Gesellschaft in Richtung von Kooperation bewegen." Zum Beispiel die gemeinschaftlich organisierte Betreuung von Alten und Kindern oder auch die Neuorganisation von Verkehr und Landwirtschaft. "In der Zwischenzeit gibt es eine große Basis von Menschen, die dieses hyperwettbewerbsorientierte, individualistische System loswerden wollen und neue Formen von Gemeinschaftsleben und Gemeinschaftsbildung vorantreiben", sagt der Professor. "Ich bin in dieser Hinsicht ziemlich optimistisch."

Jedenfalls habe ich als ersten Schritt neulich meinem Nachbarn angeboten, seinen Sondermüll zum Recyclinghof mitzunehmen, einfach so. Und das ist doch immerhin ein Anfang.