Was liegt Menschen meiner Generation noch an Europa? Das war die Frage, die meine Reise durch Frankreich, Großbritannien und Polen leiten sollte. Zwei Wochen war ich unterwegs. Ich wollte vor der Präsidentschaftswahl mit jungen Französ*innen sprechen. In Großbritannien war ich, um herauszufinden, wie sehr der europäische Gedanke noch im Brexit-Land existiert. In Polen ist mit der PiS-Partei eine nationalistische und europaskeptische Partei an der Macht. Wie sehr identifizieren sich die jungen Menschen dort mit der EU?

Ich sprach unter anderem mit Menschen in der Front-National-Hochburg Hénin-Beaumont, in der englischen Küstenstadt Hastings oder dem polnischen Ort Wrocław. Ich lernte dabei drei Dinge – und eins davon hat mich ziemlich überrascht.

1. Großstädter*innen finden Europa ganz gut – auf dem Land spielt die EU keine Rolle oder wird abgelehnt

In London machte ich mir zur Aufgabe, auf dem Campus der London School of Economics and Political Science wenigstens eine*n Brexit-Befürworter*in zu finden. Ich fand: niemanden. Das war zu erwarten. Was ich nicht erwartet habe: wie wenig sich die Londoner Studierenden dennoch mit Europa identifizierten. Die emotionalste Antwort auf den Brexit, die ich bekam, gab mir Bobby: "Der Brexit hat mich sehr traurig gemacht. Ich musste so vielen europäischen Freunden in die Augen schauen und ihnen sagen: Tut mir leid." Ob sich die Brit*innen eher als Europäer*innen oder eben als Brit*innen sähen? Ein Großteil meiner Interviewpartner*innen fand die Frage befremdlich. Die Antwort: eher als Brit*innen.

Auch unter Französ*innen hörte ich eher pragmatische EU-Bekenntnisse. "Ich finde es wichtig, dass wir Franzosen in der EU bleiben, damit wir uns gegenseitig schützen können", sagte mir Marie aus Roubaix vor der Wahl. Von der EU-Leidenschaft von Macron ließ sie sich allerdings nicht anstecken. Wie viele Wähler*innen in Frankreich wählte sie den neuen Präsidenten nicht, um ihre Liebe für Europa auszudrücken, sondern schlicht, damit Le Pen nicht gewinnen würde.

Für die Menschen, die Le Pen favorisierten, ist die Europäische Union hingegen kein Thema. "Für uns Franzosen hat die Migrationskrise oberste Priorität. Ein Referendum über den Austritt Frankreichs aus der EU wird keine Mehrheit bekommen. Viele wollen, dass Frankreich in der EU bleibt", sagte mir Elea aus dem kleinen Ort Hénin-Beaumont.

"Wir brauchen die EU nicht. Wir waren schon immer ein Inselstaat und sind großartig auch ohne die Europäische Union", verriet mir John, ein arbeitsloser Zimmermann aus Hastings. Der 19-jährige Anthony hat durch die EU-Osterweiterung nur Nachteile erfahren. Er sagte mir: "Wir sollten unabhängig bleiben. Es kommen so viele Polen nach Hastings und nehmen uns die Häuser und die Arbeit weg. Es ist schwierig für mich, Jobs zu finden. Es gibt keine Hoffnung, kein Geld, kein gar nichts."

2. Wer die Hashtags #instatravel und #studyabroad benutzen kann, mag Europa

John und Anthony haben es wahrscheinlich schwer, Hastings überhaupt zu verlassen. Der Ort, in dem sie wohnen, war früher sicher mal ein schöner Urlaubsort, heute hat er sich verändert: Die Arbeitslosenquote liegt bei sieben Prozent, an der örtlichen Apotheke stehen die Menschen Schlange an der Methadon-Ausgabe. Bereits vormittags sind viele Menschen jeden Alters, denen ich begegnete, betrunken oder bekifft. Es gibt keine Arbeit für John und Anthony – und es ist ihre Realität, dass mit der EU-Osterweiterung 2004 Pol*innen in ihre Heimat kamen und ihre Jobs für weniger Geld angenommen haben. Was haben die beiden effektiv von der EU?

Auch im französischen Hénin-Beaumont ist die Arbeitslosigkeit hoch. Alane, der Hundeführer werden will, aber keine Arbeit findet, hat Le Pen gewählt. "Le Pen wird als Erstes die Grenzen schließen. Sie will Arbeit für die Jungen schaffen, bevor neue Migranten nach Frankreich kommen. Mit Macron wird weiterhin das Geld regieren. Die Reichen bekommen immer alles und die Armen nichts." Dass das eine einfache Lösung ist und die Arbeitslosigkeit in Hénin-Beaumont auch nicht gesunken ist, seit der Front National im Oktober 2014 bei den Landkreiswahlen die absolute Mehrheit errang – geschenkt.Wer Europa gut findet, hat seine Privilegien bereits erfahren. Wer beispielsweise dank Erasmus-Jahr in einem anderen Land der EU leben konnte, der findet Europa gut. Wer vernetzt ist und Familie in Amsterdam, Freund*innen aus Portugal und Arbeitskolleg*innen aus Frankreich hat, steht zu Europa. So ging es allen Studierenden in London, die ich fragte oder jungen Pol*innen, die in der Grenzstadt Słubice wohnen und in Deutschland studieren.

3. Eigentlich finden nur wir Deutschen Europa so richtig geil

"Natürlich als Pole!", war Szimons Antwort auf meine Frage, ob er sich eher als Pole oder als Europäer sieht. Er fand die Frage ziemlich lächerlich, denke ich. In Polen über Politik zu reden, ist äußerst schwierig, aber das Bekenntnis, Pole zu sein, geht den meisten dennoch leicht über die Lippen.

Anders sind da wir Deutschen. An der Europa Universität Viadrina in Frankfurt/ Oder traf ich Sophie. Sie sagte mir: "Ich bin stolz, Europäerin zu sein und finde es überhaupt nicht mehr zeitgemäß, Deutsche sein zu müssen." Nur meine deutschen Interviewpartner*innen bekannten sich so leidenschaftlich zu Europa. Auch die proeuropäische – und zuweilen als inhaltslos kritisierte – Bewegung Pulse of Europe fand in Deutschland ihren Anfang.

Woran liegt das? Vielleicht gefällt uns unsere gefühlte Vorreiterrolle ganz gut. Vielleicht wissen wir, dass wir wirtschaftlich stark von der EU profitieren. Vielleicht liegt es auch daran, dass es uns Deutschen aufgrund unserer Vergangenheit schwerer als anderen fällt, uns auf unsere Nation zu berufen. Kommt uns ein Europa, auf das wir stolz sein können, nicht wie gerufen?

Und jetzt?

Die EU nützt der privilegierten Mittelschicht. Menschen, die schon länger allein gelassen wurden, hat Europa nichts zu bieten. Darin liegt jedoch der Schlüssel, um Europa auch den Menschen ans Herz zu legen, die bisher nicht profitieren. Macron und Merkel versicherten gerade, dass sie ein sozialeres Europa wollen. Wie genau das aussehen soll, verrieten sie bisher nicht. Vielleicht könnte eine europäische Arbeitslosigkeitsversicherung helfen, vielleicht ein gemeinsames europäisches Bafög. Sicher ist, dass die EU anfangen muss, mit all ihren Bürger*innen zu sprechen.

Anmerkung: Es handelt sich bei diesem Artikel um ein journalistisches Format, nicht um eine wissenschaftliche Studie. Der Autor gibt die Ergebnisse der von ihm geführten Interviews wieder und zieht daraus sein persönliches Fazit.

Meine Reise durch Europa dokumentierte ich für den Reportagen-Kanal hochkant von funk.