Henrik Schulte hat diesen Artikel nach einem Gespr

ä

ch mit der Erz

ä

hlerin verfasst. Sie 

hat den Artikel zuvor gelesen und der Ver

ö

ffentlichung zugestimmt. 

Die Namen wurden auf Wunsch der Protagonistin von der Redaktion ver

ä

ndert.

Mit 18 Jahren kehrte ich Deutschland den R

ü

cken und brach nach Italien auf. Zehn Monate sollte mein Abenteuer dauern. Ich hatte neben freudiger Erwartung auch ein gesundes Selbstbewusstsein im Gep

ä

ck. Sieben Monate später hat mein Ego durch die 

st

ä

ndigen Schikanen meiner Gastmutter gelitten – und ich bin wieder zu Hause. Es waren kleine Sticheleien und große

 Dem

ü

tigungen, die f

ü

r mich w

ä

hrend der vergangenen Monate zur psychischen Belastung geworden waren.

Das Leben in einer Zwei-Klassen-Gesellschaft: Distanz, Demütigungen und unzureichende Hygienestandards

Vom Flughafen D

ü

sseldorf startete ich Anfang September meine Reise. Am Flughafen Mailand Malpensa stand ich etwa zwei Flugstunden sp

ä

ter ganz allein mit meinen Koffern dort. Aufgeregt, unsicher und erwartungsvoll. Niemand kam, um mich abzuholen – keine freudige Begr

üß

ung, keine warmherzige Umarmung.

Das 18-j

ä

hrige M

ä

dchen aus einem Dorf bei M

ü

nster war nun ganz auf sich allein gestellt.

Nur eine Adresse, die meine Gastfamilie mir vorher per E-Mail zukommen lassen hat, sollte mir helfen, den Weg vom Flughafen zur Wohnung zu finden – in einer v

ö

llig fremden Millionenmetropole. Ich war mir damals noch sicher, dass meine Gasteltern unausweichliche Termine hatten und mich nicht abholen konnten. Heute wei

ß

ich: Unausweichliche Termine gab es f

ü

r sie st

ä

ndig. Mir auszuweichen, das gelang ihnen hingegen immer sehr gut.

Nummer neun

Die erste H

ü

rde genommen und im neuen Zuhause angekommen, fand ich dann den Jungen, um den ich mich k

ü

mmern sollte, mit einem Babysitter vor. Dieser f

ü

hrte mich in das B

ü

ro meiner Gastmutter. Am Schreibtisch sa

ß

eine schlanke, sehr seri

ö

s – fast schon verbittert – wirkende Frau mit braunen, schulterlangen Locken. Zum ersten Mal sah ich die Frau, die mich f

ü

r die n

ä

chsten Monate immer wieder denunzieren und meine Pers

ö

nlichkeit und Prinzipien st

ä

ndig anzweifeln w

ü

rde: meine Gastmutter Manuela.

Mich, ihr neues Au-Pair, f

ü

hrte sie herum. Dabei stellte sie mich ihren Kolleg*innen als

"

Nummer neun

"

vor. Damals lachte ich

ü

ber diesen herablassenden Witz noch. Einige Wochen sp

ä

ter wurde mir bewusst, dass ich schon nach wenigen Minuten mit der Wahrheit konfrontiert wurde. F

ü

r Manuela war ich nie mehr als eine Nummer auf der Liste.

Eines Abends freute ich mich auf den Besuch, den meine Gasteltern angek

ü

ndigt hatten. Als die vielen G

ä

ste zur T

ü

r reinkamen, sch

ü

ttelte ich jedem die Hand und stellte mich vor – als

"

Sarah

"

, nicht als

"

Nummer 9

"

. Ich freute mich auf viele interessante Gespr

ä

che mit Menschen aus verschiedenen Kulturen. Ich freute mich, an einem lustigen Abend teilhaben zu k

ö

nnen. Schon etwa eine Stunde sp

ä

ter, nach dem Abendessen, war ich wieder

"

Nummer neun

"

. Alleine stand ich zwei Stunden lang in der K

ü

che, um alles zu sp

ü

len, aufzur

ä

umen und zu putzen. Danach fiel ich todm

ü

de ins Bett. Ich f

ü

hlte mich benutzt. Und wurde zum Instrument meiner Gasteltern. Ich war kein Familienmitglied, sondern eine Angestellte – ohne eigene Bed

ü

rfnisse.

Wenn es an der Zeit war, den M

ü

ll rauszubringen, erschien auf meinem Handy eine Nachricht

"

Sarah, M

ü

ll!

"

. Wenn ich abends f

ü

r die Familie kochte, bedankte sich niemand. Daf

ü

r beschwerte sich Manuela regelm

äß

ig. Als ich f

ü

r vier Personen zwei T

ü

ten Suppe zubereitete, warf sie mir aufgebracht einen verschwenderischen Umgang mit Lebensmitteln vor. Wenn Lebensmittel im K

ü

hlschrank vergammelten, dann war es meine Schuld:

"

Du isst nicht genug Gem

ü

se, Sarah. Nun ist alles verdorben.

"

Verschimmelte Lebensmittel fand ich im K

ü

hlschrank meiner Gastfamilie immer wieder. Anstatt das Verdorbene wegzuwerfen, wurde dies h

ä

ufig noch in Gerichten verarbeitet und dann zum Abendessen serviert. Jede meiner eindringlichen Bitten, etwas an den Zust

ä

nden zu

ä

ndern, wurde ignoriert. Noch Monate nach meiner Ankunft fand ich in der K

ü

che eine br

ü

chige Decke vor, von der jederzeit Betonst

ü

cke auf mich herunter prallen h

ä

tten ko

nnten.

W

ä

hrend die Waschmaschine lief, wurde in meine Duschwanne das schmutzige W

ä

schewasser abgeleitet. Ich ekelte mich. 

Außerdem musste ich mich mit einer alten, verrosteten Badewanne ohne richtigen Duschkopf begnügen. Den Schlauch band ich irgendwann mit einem Tau

ü

ber der Dusche fest, um ihn nicht mehr durchgehend festhalten zu m

ü

ssen. Jedes Mal, wenn ich das gut ausgestattete Badezimmer meiner Gastfamilie betrat, f

ü

hlte ich mich wertlos. Mir wurde vor Augen gef

ü

hrt, dass ich kein Familienmitglied war. Was hatte ich getan, dass ich ihren Standard nicht verdiente?

Keine zweite Familie

W

ä

hrend meines ganzes Aufenthalts hat mich meine Gastfamilie nie gefragt, ob es mir gut gehe oder ob ich zufrieden sei. Bevor es losging, hatte ich ein ganz anderes Szenario im Kopf. Ich dachte, ich w

ü

rde in Mailand eine zweite Familie gewinnen. Ich dachte, ich w

ü

rde sie noch nach dem Aufenthalt anrufen k

ö

nnen, wenn es bei mir in Deutschland Probleme geben w

ü

rde. Heute sehe ich das anders. Irgendwann kam der Punkt, an dem ich mich schon dar

ü

ber gefreut h

ä

tte, einfach toleriert zu werden.

W

ä

hrend ich bei ihnen lebte, fasste meine Gastfamilie den Entschluss, umzuziehen. Das machte mein Leben nicht einfacher, denn als zus

ä

tzlicher Stressfaktor belastete der Umzug meine ohnehin viel besch

ä

ftigten Gasteltern noch mehr. Mir traten sie in dieser Zeit noch launischer gegen

ü

ber.

Immer h

ä

ufiger musste ich mir, nachdem die Dem

ü

tigungen mir ohnehin schon an die Substanz gegangen waren, Anschuldigungen anh

ö

ren.

Einmal verbrachte ich den ganzen Morgen damit, das Zimmer des Kindes aufzur

ä

umen. Als er danach in seinem Zimmer spielte und Hausaufgaben machte, machte er es wieder unordentlich. Am Abend beschwerten sich meine Gasteltern, dass das Zimmer nicht aufger

ä

umt sei. Mein Versuch, mich zu rechtfertigen, wurde abgewiesen. Meine Gastmutter wendete mir k

ü

hl und herablassend den R

ü

cken zu.

"

Sarah

"

, sagte sie. Es war Zeit f

ü

r mich zu schweigen. Sie war es, die sich beschwerte, nicht ich.

Anderen Au-Pairs erging es ganz anders. Zum Geburtstag hat eine Freundin von mir sogar eine Tasche bekommen. Ein Anderer ein Tablet; morgens stand ein Kuchen mit Kerzen auf dem Tisch. Mir hingegen wurde nicht einmal gratuliert. Als mein Gastbruder meine Gastmutter auf meinen Geburtstag hinwies, reagierte sie mit einem k

ü

hlen, distanzierten Kopfnicken. W

ä

hrenddessen z

ä

hlte Manuela:

"

18, 19, 20..

"

.

"

19!

"

, antwortete ich ihr l

ä

chelnd. Verdutzt sah sie mich an. Als ich genauer hinsah, stellte ich fest, dass sie die Umzugskartons z

ä

hlte und nicht nach meinem Alter gefragt hatte.

Generell beinhaltet das Konzept

"

Au-Pair

"

einige Transferleistungen der Gastfamilie ihrem Au-Pair gegen

ü

ber. F

ü

r die Arbeit, die der*die Babysitter*in verrichtet, wird die Unterkunft, Verpflegung und in den meisten F

ä

llen Taschengeld gestellt. So stand es auch in meinem Vertrag. H

ä

ufig wurden mir allerdings nicht gen

ü

gend Lebensmittel zur Verf

ü

gung gestellt. Wenn ich dann gezwungenerma

ß

en selbst einkaufen ging, sah ich nie etwas von dem Geld wieder. So begleiteten mich das ganze Jahr

ü

ber finanzielle Engp

ä

sse, hungern wollte ich aber nicht.

Nun fühle ich mich dick

Bevor ich mir einmal das letzte Brot beim Abendessen nahm,

ü

berlegte ich minutenlang hin und her. Ich wartete ab, ob noch jemand aus der Familie das Brot wollen w

ü

rde. Als nach einigen Minuten immer noch niemand zugriff, nahm ich es mir. Manuela h

ö

rte auf zu essen, legte ihre Gabel hin, sah mir in die Augen und zog ihre Augenbrauen hoch. Ich bereitete mich auf einen weiteren Tiefschlag vor.

Mit gerunzelter Stirn und einem schockiertem Unterton machte sie ihre Kritik deutlich:

"

Aber Sarah, du wolltest doch abnehmen!

"

 Ihre Aussage traf mich wie ein Schlag.

"

Warst du denn heute joggen?

"

, schob sie hinterher. Ich gefror innerlich. Nichts konnte ich mehr sagen.

Ä

hnliche Situationen wiederholten sich beinahe t

ä

glich.

Als ich noch in Deutschland lebte, hatte ich ein gesundes Selbstwertgef

ü

hl. Ich habe mich attraktiv gef

ü

hlt und war mit meiner Figur zufrieden. Heute sehe ich mich

 mit anderen Augen.

Die Makel, die st

ä

ndig kritisiert wurden, sehe ich jetzt auch selbst. 

Heute versuche ich, das Positive zu sehen

Eines Abends spitzte sich die Situation zu. Etwa drei Wochen bevor der Umzug anstehen sollte, stand ich in der K

ü

che, um mir einen Salat zu machen. Mein Gastvater, der am T

ü

rrahmen lehnte, betonte drei Mal hintereinander, dass in der neuen Wohnung nicht genug Platz f

ü

r all meine Sachen sei. Er schien einen ernsthaften Vorschlag zur L

ö

sung des Problems von mir zu erwarten.

Als ich bewusst nicht darauf einging, wurde er deutlicher:

"

Meinst du, du k

ö

nntest etwas eher gehen, als geplant?

" Das kam mir gelegen. 

Ich suchte noch am selben Abend das Gespr

ä

ch mit meiner Gastmutter. W

ä

hrend ich mir M

ü

he gab, durchweg sachlich zu bleiben, redete sich meine

Chefin in Rage. Genau drei weitere Wochen sollte ich noch f

ü

r die Familie arbeiten.

Obwohl erst einen Tag nach der geplanten Abreise eine Flugverbindung zur

ü

ck in die Heimat m

ö

glich war, bot die Familie mir nicht an, l

ä

nger zu bleiben. Mein Gastbruder witzelte, ich k

ö

nne dann ja unter der Br

ü

cke schlafen. F

ü

r mich war der Witz deutlich unter der G

ü

rtellinie. Dennoch widersprach meine Gastmutter ihrem Sohn nicht. H

ä

tte ich nicht bei einem guten Freund unterkommen k

ö

nnen, h

ä

tte ich wohl ein Problem gehabt. 

Dann hatte der Alptraum ein Ende.

Dennoch mache ich mir manchmal Vorw

ü

rfe. Es fällt mir schwer, 

den Beschuldigungen keinen Glauben zu schenken. Auch bin ich traurig, meinen Gastbruder und meine vielen Freunde zur

ü

ckgelassen zu haben.

Ich halte die sieben Monate, in denen ich immer wieder gedem

ü

tigt wurde, nicht f

ü

r unbrauchbar. Ich gebe mir heute M

ü

he, das Positive zu sehen. Ich glaube, dass uns manchmal Steine in den Weg gelegt werden m

ü

ssen, damit wir lernen, sie wegzur

ä

umen. An Herausforderungen w

ä

chst man. Auch wenn es seine Zeit braucht, reden mir meine Freunde und Familie immer wieder Mut zu. Sie helfen mir, meine Erfahrungen zu verarbeiten und mich aufzubauen. Ich weiß jetzt, 

dass ich in der Lage bin, sogar einen derartigen Psychoterror

ü

ber so einen langen Zeitraum auszuhalten. Und gehe gestärkt aus der Situation hervor.