Es kostete mich Jahre, meiner Familie beizubringen, dass ich ab jetzt gerne auf den Weihnachtsbraten verzichte. Dann aß ich das erste Stück Fleisch seit Jahren. Und es schmeckte fa-bel-haft. Davon darf jetzt nur niemand was mitkriegen.

Ich stehe vor dem Imbiss und telefoniere mit meiner Oma. Es geht um das Familientreffen. Zum Glück fragt sie nicht, was sie mir Vegetarisches kochen soll. Der Mann hinter dem Tresen fragt, was ich gerne hätte. Ich zeige auf die große Currywurst auf dem Schild neben der Imbissbude. "Pommes?", fragt er. "Currywurst", flüstere ich. "Wie bitte?", fragt meine Oma. "Wat willste?", der Imbissmensch. Oh je, so weit ist es mit mir gekommen: Ich bin ein heimlicher Nicht-mehr-Vegetarier.

Essen ist politisch

Als ich noch jung und idealistisch war, habe ich Monate damit zugebracht, der Verwandtschaft und meinen Freund*innen einzutrichtern: "Nein danke, kein Fleisch für mich, bitte. Ich bin Vegetarier." Und immer kam die Frage: "Ganz sicher?" Ich wurde darauf hingewiesen, dass das doch ungesund sei, dieser Vegetarismus. Viel zu gefährlich sei die Nähe zum Veganismus. Und den Veganer*innen, das sei ja bewiesen, den fehlten die nötigsten Nährstoffe. Bleich werden sie, kraftlos und die Haare fallen ihnen aus.

Vegetarier*in zu sein, das war ein Politikum für mich. Ich war gegen die Massentierhaltung, wollte keine Antibiotika in unserer Nahrung und den Klimawandel bekämpfen. Vegetarismus, das war nicht nur Lifestyle, es war eine Lebenseinstellung. Auf Fleisch zu verzichten war mein Statussymbol, ein fester Bestandteil einer Gruppenidentität.

Endlich, als akzeptiert worden ist, dass ich vegetarisch esse, kocht Oma an Weihnachten auch ein kleines Extra ohne Fleisch. Endlich bekam ich keine Wurst mehr angeboten und – auch wenn immer noch die Sorge besteht, ich könne sozusagen vom Fleisch fallen, wird doch die Grundsatzdebatte in meiner Familie vermieden.

Heimliche Klopssünden

Und dann kommt die Wurst. Oder der Geruch von Schinken. Oder der Döner mit Fleisch. Nach drei, vier oder sieben Jahren die erste Bifi. Und die Erkenntnis: Schmeckt ganz gut, dieses Fleisch. Warum esse ich das nicht öfter?

Und damit geriet ich in eine Zwickmühle. Werde ich belächelt, wenn ich von nun an wieder Fleisch esse? Was ist mit der politischen Botschaft, die ich vertrete? Prinzipientreue geht jedenfalls anders.

Also verheimlichte ich meinen Fleischkonsum und aß Chicken-Nuggets lieber hinter dem Sofa. Auch vor den Freund*innen, mit denen ich gemeinsam über viele Jahre lang an Überzeugungen bastelte und vegetarische Kochabende veranstaltete, konnte ich meine Rückkehr zur Fleischeslust nicht zugeben.

Die Rückkehr zum Fleisch, damit bin ich nicht allein. Eine Studie belegt, dass 34 Prozent aller Vegetarier*innen bei Alkoholkonsum schwach werden und wieder zum Fleisch greifen. Auf Beichthaus.com gesteht ein junger Mann: "Ich (m/27) gebe mich nach außen hin als Veganer, esse aber, wenn ich alleine bin, trotzdem heimlich Fleisch."

Die Gründe sind unterschiedlich, manch eine*r hat keine Lust mehr auf die Diskussionen, ein*e andere*r vermisst den Fleischgeschmack und einer*n Dritten machen die besorgten Blicke der Verwandten dann doch zu schaffen.

Warum machen wir uns was vor?

Sina hat einen ganz speziellen Grund. Sie erzählt, dass sie keine Vegetarierin mehr ist, seitdem sie abgetrieben hat. Sie meint, wenn sie einen Fötus tötet, könne sie genauso auch wieder Tiere essen. Am Anfang hat sie mit niemandem darüber gesprochen. Freund*innen, die überzeugte Vegetarier*innen sind, hat sie erst einmal gar nichts davon erzählt. Heimlich stahl sie sich bei Familienessen Wurstscheiben vom Abendbrottisch.

Mit der Currywurst in der Hand stehe ich an der U-Bahn und denke darüber nach, warum wir Abtrünnigen uns und den anderen eigentlich was vormachen. In einer Zeit der Individualisierung begegnen sich Menschen, indem sie ihre Identitäten präsentieren. Wir grenzen uns voneinander ab, indem wir uns positionieren. Unsere Position definiert sich durch das, was wir machen und konsumieren. Ich höre Metalmusik, also bin ich ein Metalhead. Ich fahre Fahrrad, weil ich ein*e Klimaretter*in bin.

Die eigene Glaubwürdigkeit hängt davon ab, wie stimmig wir unsere Lebensnarrative präsentieren können. Was nicht ins Bild passt, verschweigen wir.

Wenn wir einen Teil unserer Identität aufgeben, fürchten wir, nicht mehr ernst genommen zu werden und ehemalige Verbündete zu verlieren. Außerdem schleicht sich das Gefühl ein, wir hätten einen Rückschritt gemacht auf dem Weg zu einem besseren, nachhaltig lebenden Menschen.

Dabei muss eine veränderte Einstellung gar nicht bedeuten, dass wir einen Rückschritt machen.

Wenn wir uns beispielsweise dafür entscheiden, von nun an Fleisch zu essen, aber nur Biofleisch, ist das eine Art Weiterentwicklung. Was aber stattdessen passiert, ist, dass wir heimlich die schlechteste aller schlechten Würste essen, die wir vor der Zeit als Vegetarier*in vielleicht sogar ekelhaft gefunden hätten. Weil der heimliche Fleischverzehr als Sünde wahrgenommen wird, denken wir uns: Wenn schon, dann richtig.

Die Wurstwende muss kein Rückschritt sein

Was sagt dieser Mechanismus über uns und unsere Gesellschaft aus? Warum können wir uns und anderen nicht mehr Flexibilität in den Ansichten zugestehen? Weil es klare Bewertungen gibt, was ein guter und was ein schlechter Lebensstil ist. Zumindest in der bürgerlichen Mitte der Gesellschaft. Dort gilt unter Vielen: vegetarisch essen ist gut, Fleisch essen ist schlecht. Wenn wir es auf die Seite der Guten geschafft haben, wollen wir dort auch gerne bleiben und haben Angst, von dort verstoßen zu werden.

Wenn jede Überzeugung sofort zur Religion wird, ist es wichtig, dass wir toleranter gegenüber den Lagerwechselnden werden.

Manchmal zeigt sich aber, dass unser Umfeld es gar nicht so schlimm findet, wenn wir eine Überzeugung aufgeben. Als Sinas Familie erfuhr, dass sie wieder Fleisch isst, war ihre Mutter erleichtert. "Endlich keine Extrawurst mehr für die Vegetarierin", meinte sie. Ob ich beim Familientreffen doch vielleicht wieder vom Fleisch kosten soll?