Achtung: Dieser Text enthält ein paar kleinere und größere Spoiler zum 2015 erschienenen Hauptspiel "The Wild Hunt" und der 2016 erschienenen Erweiterung "Blood and Wine" von "The Witcher 3".

Am Ende des Abenteuers in Blood and Wine blickt Geralt mich, den Spieler, direkt an. Er durchbricht dadurch die vierte Wand, die uns bislang voneinander trennte. Es ist, als wolle er mir sagen: "Das, mein Freund, haben wir gemeinsam geschafft. Leb' wohl." Der Abspann setzt ein und das Spiel, mit dem ich fast 200 Stunden meines Lebens verbrachte, ist vorbei.

Geralt von Riva ist ein Hexer, gegen Geld geht er in der Welt von The Witcher auf die Jagd nach Monstern. Als kleines Kind bekam er in der Kräuterprobe übernatürliche Kräfte verliehen, damit er dieser Berufung nachkommen kann. Er wurde zu einem Mutanten – zum perfekten Krieger mit schnelleren Reflexen, einem viermal langsameren Herzschlag und einem scharfen Gehör. Hexer werden nicht krank und sie altern viel langsamer als normale Menschen. Die Übermenschlichkeit hat jedoch ihren Preis. Auch jegliche Emotionen wurden ausgelöscht: Geralt kann weder aufrichtig lieben, noch sich freuen, noch trauern.

Ich, als Spieler, weiß, dass Geralt sich dieses Leben nicht ausgesucht hat. Und immer wenn ich im Spiel die Möglichkeit habe, Entscheidungen zu treffen, etwa in Dialogen zwischen verschiedenen Antworten zu wählen, denke ich an Geralts Geschichte: Wie kann ich sein Schicksal zum Guten wenden?

Eine ganze Welt, nur für mich

Die Erlebnisse des Hexers, die ich nachspiele, basieren auf den Erzählungen von Andrzej Sapkowski. Der Autor veröffentlichte mehrere Bücher über Geralts Reisen. Die Game-Entwickler*innen konnten also auf eine riesige Hintergrundstory zurückgreifen.

Das Hauptspiel The Wild Hunt beendete ich vor etwa einem Jahr. Mitte 2016 veröffentlichten die polnischen Entwickler*innen dann die Erweiterung Blood and Wine. Es wurde ein 30-stündiges, spielbares Finale. Und eine Liebeserklärung an ihr eigenes Spiel.

The Witcher 3 ist ein klassisches Rollenspiel, und als solches bietet es mir eine riesige, offene Welt. Und die Freiheit, dorthin zu gehen, wohin ich möchte. Unzählige Stunden war ich als Geralt in The Wild Hunt im vom Krieg verwüsteten Velen unterwegs, mit seinen tiefen Wäldern, dunklen Höhlen und der umtriebigen Hafenstadt Novigrad.

Ich erlebte dort, wie man mir in Tavernen rassistische Beleidigungen – "Hexer stehlen unsere Kinder" – hinterher warf. Ich beschäftigte mich mit den menschlichen Abgründen der verfeindeten Fraktionen, die beide Anspruch auf den Thron erhoben. Als Geralt traf ich komplexe und folgenschwere Entscheidungen, welche die fiktive Welt um mich herum veränderten. Durch mein Handeln beeinflusste ich auch das politische Schicksal des Königreichs: Ich konnte entweder beim Putsch helfen oder einem despotischen Herrscher den Thron ermöglichen.

Unbewusst passierte dabei etwas Faszinierendes: Während ich die Spielfigur zwar lenkte, ihr in Dialogen meine Antworten vorgab, ließ ich mich umgekehrt dabei von ihrer Geschichte beeinflussen. Die virtuelle Figur – oder das Hintergrundwissen über sie – und ich färbten gegenseitig aufeinander ab. Oder anders gesagt: Für die Dauer des Spiels schlüpfte ich in die Haut Geralts. Er war ich. Und ich war er.

Je näher ich dem Ende kam, desto flauer wurde mir

Jetzt also ritt ich mit Plötze, meinem Pferd, durch eine neue Welt, in der man sich durchaus niederlassen könnte. Es sollte Geralts und mein letzter Auftrag werden. Toussaint erinnert mit seinen Weinbergen an das mediterrane Frankreich. Der Krieg ist hier weit weg: Die Menschen erfreuen sich am Wein und kämpfen in fröhlichen Ritterturnieren, Künstler*innen säumen die Straßen von Beauclair, der malerischen Hauptstadt des Landes. Und wurden im Hauptspiel bei der grafischen Gestaltung noch düstere Farbtöne verwendet, ist hier alles von nahezu märchenhafter Schönheit. Doch der Schein trügt natürlich, auch in Toussaint ist längst nicht alles gut.

Blood and Wine erzählt seine Geschichte in einer Qualität, die den besten Filmen in nichts nachsteht. Nur ist sie eben länger: Nach rund 30 Stunden komme ich so langsam ans Spielende. Und mir wird immer flauer: Bald ist die Geschichte zu Ende. Bald ist Geralts und meine Reise vorbei.

Es mag kurios klingen. Aber Geralts Welt war eineinhalb Jahre lang eine Art Parallelwelt für mich. Pausierte ich das Spiel für einige Tage und legte den Controller beiseite, legte ich auch einen Teil von mir selbst zur Seite. Auch wenn ich schon seit über 15 Jahren Videogames spiele, derart traurig habe ich mich in den letzten Spielstunden noch nie gefühlt. Ich kehre immer wieder gerne in Geralts Welt zurück, um mich von der realen abzulenken. Umso schwerer wird in den letzten gemeinsamen Stunden der Gedanke für mich, sie endgültig verlassen zu müssen. Weder die Zelda-Reihe, noch irgendein anderes Spiel machte mir das bisher so mühsam.

Die perfekte Immersion

Ich vergleiche solche Games mittlerweile gerne mit Romanen. Beide Medien kann ich in meiner Geschwindigkeit konsumieren. Beide kann ich für eine Weile weglegen und bei beiden muss ich mich sehr bewusst dafür entscheiden, weiterzulesen oder zu spielen. Doch Spiele wie The Witcher 3 zeigen, welchen fundamentalen Unterschied es gibt: Während ich den Verlauf der Geschichte in Büchern nicht beeinflussen kann, ist genau das die Essenz eines Spiels.

In einem der Aufträge von The Wild Hunt muss ich einem Baron helfen, dessen Frau spurlos verschwunden ist. Was anfangs nach einer einfachen Suche klingt, wird zu einem mehrstündigen Ritt mit gnadenlosen Story-Twists. Ich finde die Verschwundene und erfahre, dass der Baron unter einer Alkoholsucht leidet, was er Geralt und mir verschwiegen hat. Er wurde seiner Frau gegenüber gewalttätig, was der wahre Grund ihres Verschwindens ist: Sie befindet sich auf der Flucht vor ihrem Mann. Jetzt muss ich eine Entscheidung treffen: Sie zurückbringen oder sie laufen lassen. Ich entscheide mich, der Frau zu helfen, begehe aber den Fehler, ihrem Mann zu verraten, wo sie steckt. Schmerzlich muss ich feststellen, dass der Baron sich daraufhin erhängte. Dabei konnte ich mich zwischenzeitlich auch in ihn einfühlen und wollte nicht, dass jemand sterben muss. Aber ich habe die Tragweite unterschätzt und mich falsch entschieden – jetzt musste ich mit den Konsequenzen leben.

Das ist gemeint, wenn man von Immersion bei Videospielen spricht: Man taucht sprichwörtlich in andere Welten ab. Man nimmt seine eigene Person nicht mehr wahr, sondern identifiziert sich mit den Protagonist*innen und ihrer Wahrnehmungswelt.

Leb' wohl, Geralt

Kurz vor dem Ende unserer Reise wird Geralt von einem Charakter gefragt, ob er irgendetwas in seinem Leben bereue. Wenn er wählen könnte, würde er wieder Hexer werden oder ein normales Leben leben? Nach so vielen Stunden, in denen wir gemeinsam durch die riesige Spielwelt ritten, in denen wir dem Rassismus der Menschen uns gegenüber ausgesetzt waren, in der wir kämpften, fühlten, litten, geht die Frage auch an mich persönlich: Bereue auch ich irgendetwas?

Ich bin nicht sicher, wie ich die Frage für mich beantworten würde. Wäre The Witcher 3 nicht gewesen, ich hätte andere Dinge mit meiner Zeit angestellt. Aber es hatte schon etwas Befriedigendes, Zuflucht in dieser imaginären Welt zu finden. Sie ist nicht real, aber die Erfahrungen, die Geralt machte, sind irgendwie auch meine Erfahrungen – und aus ihnen kann ich Bedeutungen ziehen, die mich im realen Leben beeinflussen.

Was ich im Spiel erlebte, mag zwar virtuell gewesen sein, doch die Gefühle dabei waren echt. Es ging mir ähnlich, als ich vor vielen Jahren die letzten Seiten von Harry Potter las: Als die Geschichte zu Ende war, fühlte ich eine innere Leere.

Das ist der Grund, wieso es mir so schwer fiel, The Witcher 3 endgültig zu beenden und die Konsole ein letztes Mal auszuschalten, nachdem Geralt mich direkt anblickte. Ich weiß zwar, dass ich jederzeit in seine Welt zurückkehren kann. Aber auch, dass es nie wieder dasselbe sein wird.

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