Essen ist die neue Religion. Statt strengen Regeln aus der Bibel folgen wir heute anderen Vorschriften: Bio, fair, regional und vor allem gesund muss es sein, was auf den Teller kommt. Das heißt: Wer sich nicht daran hält und das vermeintlich Falsche und/oder zu viel isst, der gilt als willensschwach, unmotiviert, faul.

"Das ist eine neue Vorstellung von Moral, die über die Ernährung ausgetragen wird", erklärt Friedrich Schorb, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Public Health der Universität Bremen und Beiratsmitglied der Gesellschaft gegen Gewichtsdiskriminierung. "Der Körper ist das neue Statussymbol."

Wer nicht in das Idealbild unserer Gesellschaft passt, der wird ausgegrenzt. Das gilt für Magermodels genauso wie für dicke Menschen. Diese Diskriminierung zieht sich durch alle Bereiche des Lebens. Angefangen bei der Jobsuche über die Partnerwahl bis zur eigenen Familie. "Untersuchungen zeigen, dass Eltern in den USA weniger bereit sind, einem dicken Kind das College zu finanzieren", nennt der Soziologe Schorb als Beispiel.

„Ich bin eine fette, blonde Frau“

Mit dieser alltäglichen Diskriminierung kennt sich auch Nicole Jäger aus. Die 33-jährige Hamburgerin wiegt 170 Kilogramm. "Ich bin eine fette, blonde Frau", sagt sie selbstbewusst. Dass sie tough sein kann, musste sie erst lernen. Vor acht Jahren hat sie noch doppelt so viel gewogen. 340 Kilo. "Das war lebensgefährlich. Ich dachte, ich sterbe daran."

Heute arbeitet Nicole Jäger als Abnehmcoach, hat ein Buch geschrieben und tourt mit ihrem Bühnenprogramm "Ich darf das, ich bin selber dick" durch Deutschland. Sie weiß, dass Diäten nichts bringen. Auch von Ernährungsplänen hält sie wenig: "Jeder weiß doch, dass Kohlrabi weniger Kalorien hat als Chips."

"Und trotzdem leiden so viele Leute wie Sau. Und warum? Weil sie Essen als Waffe oder als Schild benutzen", erklärt sie. Da sei ein emotionales Loch, das mit Essen gefüllt wird. Dann fühlen sich dicke Menschen wieder schuldig, wenn sie essen, aber auch, wenn sie satt sind. Ein Teufelskreis.

Deshalb setzt sie bei ihren Klienten zuallererst beim Selbstwertgefühl an: "Du bist nicht scheiße, weil du dick bist", sagt sie ihnen. "Du darfst sogar dick sein. Aber du darfst auch ein Problem damit haben."

Sie will vor allem vermitteln, mit dem eigenen Körper zufrieden zu sein. "Am Ende geht es um Lebensqualität. Niemand muss abnehmen, um zufrieden zu sein. Das ist eine individuelle und persönliche Sache", findet die 33-Jährige. Sie selbst nimmt weiter ab, bis sie sich noch besser fühlt. "Ob das am Ende 150 oder 90 Kilo sind, ist mir egal. An Zahlen auf der Waage glaube ich nicht. Ich bin eine dicke Frau, werde es immer bleiben, und fühle mich echt cozy damit."[Außerdem auf ze.tt: Diese Frau stärkt mit Pole-Dancing ihr Selbstbewusstsein]

"Abnehmen ist wichtiger als körperliches Wohlbefinden"

Es ist natürlich schwierig, das in die Köpfe zu bringen, wenn einem von Kindesbeinen eingebläut wird, dass dünn sein besser ist als dick sein. Diskriminierungen und blöde Sprüche lauern an jeder Ecke. "Das ist eine Minute für jemanden, der einen beleidigt, aber das hält für die betroffene Person ein Leben lang", weiß sie aus Erfahrung. "Und es geht um nichts Geringeres als um ein Menschenleben, das darunter leidet."

Genau gegen solche Diskriminierungen setzt sich auch Magda Albrecht ein. Die Berlinern ist Bloggerin und fat-positive Aktivistin. Auch ihr ist es besonders wichtig, dass Menschen über ihre Körper selbst bestimmen: "Ich hinterfrage, warum Abnehmen in dieser Gesellschaft so wichtig ist – wichtiger als seelische Gesundheit oder körperliches Wohlbefinden."

Denn im Unterschied zu Rassismus oder Homophobie hören dicke Menschen oft Sätze wie "Nimm einfach ab, dann wird dein Leben besser!" Doch wieso sollten Dicke auf die Diskriminierung reagieren? "Es gibt die falsche Vorstellung, dass alle ihren Körper stets verändern und optimieren können und wollen", sagt Albrecht.

Um das zu verändern, will die 29-Jährige "dicke Körper mit positiven Eigenschaften versehen, dicke Körper feiern und sich und dem eigenen Körper etwas Gutes tun." Das ist ein Kampf gegen verzerrte Idealbilder und für mehr Wohlbefinden. Dazu gehört aber auch, etwa den BMI als Indikator für zu hohes Gewicht zu kritisieren.

"Körper in unter-, normal- und übergewichtig einzuteilen, hat Stigmatisierung und Pathologisierung zur Folge."

So argumentiert etwa die Gesellschaft gegen Gewichtsdiskriminierung, dass die gesellschaftlichen Nachteile aufgrund zu hohen Gewichts kranker machen als das hohe Gewicht selbst. Es gibt zwar eine Vielzahl an Studien, die belegen, dass Übergewicht zum Beispiel ein Risikofaktor für Krebs darstellt. Dennoch gibt es keinen BMI-Wert, der für alle Menschen gleichermaßen ein gesundheitliches Risiko markiert.

Überhaupt hält Magda Albrecht nichts vom Wort Übergewicht: "Das ist ein pseudo-wissenschaftlicher Begriff aus der Medizin, der vermeintlich neutral daherkommt, es aber nicht ist: Körper in unter-, normal- und übergewichtig einzuteilen, hat Stigmatisierung und Pathologisierung zur Folge."

Friedrich Schorb zumindest glaubt, dass sich die Wahrnehmung von Dicken bereits geändert hat. "Heute sind dicke Menschen häufiger als früher in der Popkultur zu sehen", erklärt er. Beth Ditto etwa, von der sogar Karl Lagerfeld begeistert war. Auch Plussize-Laufstege seien auf großen Modemessen fest etabliert. "Da ist schon eine Entwicklung zu sehen. Vor zehn oder zwanzig Jahren war das undenkbar."