Auf dem Weg nach Hause ging es Caroline Sprott noch gut. Nur ihre Beine waren über den Tag angeschwollen. In der Wohnung angekommen, wollte sie sich die Schuhe ausziehen, ging in die Hocke und schrie fast auf vor Schmerz. "In dem Moment war klar, dass etwas mit mir nicht stimmt", erinnert sich die 28-Jährige aus Wetzlar. Sie ging zu ihrem Hautarzt, der überwies sie ins Gefäßzentrum. Die Diagnose: Lipödem. Das war 2010.

Das Wort Lipödem hörte Sprott damals zum ersten Mal. Bei der Krankheit vermehren sich die Fettzellen unkontrolliert, Gewebsflüssigkeit lagert sich ab und es entstehen Wassereinlagerungen, sogenannte Ödeme. Da das Lipödem meist an den Beinen auftritt, nennt man es umgangssprachlich auch das Reiterhosen-Syndrom. Schmaler Oberkörper, stämmige Beine so die charakteristischen Merkmale.

Jahrelang quälte sie sich mit Diäten

Was genau die Krankheit auslöst, ist bislang nicht bekannt. Da sie in der Regel nur Frauen betrifft und meist in der Pubertät oder nach der Schwangerschaft ausbricht, vermuten Mediziner*innen hormonelle Auslöser sowie eine genetische Veranlagung. Wieviele Menschen in Deutschland von der Krankheit betroffen sind, wurde bislang nicht erhoben. Laut Schätzungen lebt hierzulande jedoch nahezu jede zehnte Frau mit einem Lipödem.

"Das Problem ist", sagt Sprott, "dass die Krankheit meist viel zu spät erkannt wird." Dem stimmt auch Marion Tehler zu, zweite Vorsitzende von Lipödem Hilfe Deutschland e.V. "Viele Ärzte kennen sich mit der Krankheit einfach zu wenig oder gar nicht aus", meint sie, "aber es wird ganz langsam besser." Das andere Problem: Auf den ersten Blick lässt sich die Krankheit nur schwer von einer Adipositas oder starkem Übergewicht unterscheiden. Betroffene glauben daher oft, sie seien an ihrer Figur selbst schuld. Sie schämen sich, statt zum Arzt zu gehen.

Die Krankheit trieb mich fast in die Magersucht.
Madlen Kaniuth

So war es auch bei der Schauspielerin Madlen Kaniuth. Bei ihr brach das Lipödem ebenfalls in der Pubertät aus. Die Diagnose erhielt sie jedoch erst vor gut zwei Jahren, da war sie bereits Anfang 40. Bis dahin dachte Kaniuth immer, sie müsse gesünder essen, mehr Sport treiben, noch disziplinierter sein. Doch nichts davon half. Ihr Selbstwertgefühl war im Keller. Als sie schließlich zum Arzt ging, riet der ihr bloß, mit dem Rauchen aufzuhören. "Die Krankheit", sagt Kaniuth, "trieb mich fast in die Magersucht."

Und damit ist Kaniuth nicht alleine: Laut einer deutschlandweiten Online-Untersuchung der APOLLON Hochschule der Gesundheitswirtschaft in Bremen aus dem Jahr 2015 entwickelt nahezu jede fünfte Patientin mit Lipödem eine chronische Essstörung. Tehler hält die Zahl sogar noch für untertrieben. Sie geht davon aus, dass tatsächlich gut die Hälfte der Betroffenen mit einer Essstörung kämpft.

Hass auf den Körper

"Da sind außerdem nicht nur die dicken Beine, die nicht zum Oberkörper passen", erklärt Sprott. Durch die Wassereinlagerungen entwickelt die Haut auch regelrechte Dellen, hinzukommen Orangenhaut und Cellulitis. "Schön sieht anders aus", sagt Sprott. "Es gab Tage", gesteht sie, "da habe ich meinen Körper regelrecht gehasst."

Doch Sprott beschloss, sich nicht unterkriegen zu lassen. Und auch dem Lipödem ist niemand hilflos ausgeliefert. Gegen die Ödeme trug sie Kompressionsstrümpfe, ging regelmäßig zur manuellen Lymphdrainage. Das ist eine speziellen Massage, die den Lymphfluss anregt.

Es half. Die Schmerzen gingen langsam zurück. Dann überredete eine Freundin sie, einen Blog zu starten. "Auch sie hatte vorher noch nie etwas von der Krankheit gehört", erinnert sich Sprott, "und sie fand es toll, wie offenen ich mit dem Thema umging." Wenig später startete Sprott ihren Blog Lipödemmode.

Dort heißt es: "Jahrelang habe ich alles getan, mich durchhängen lassen, wieder aufgestanden, weitergemacht […]. Heute kann ich sagen: Ich bin nicht mehr die Dicke, sondern die Starke." Auf dem Blog zeigt sie nicht nur, dass Mode und Kompressionskleidung sich nicht gegenseitig ausschließen, sie gibt auch Einblick in ihr Inneres und klärt über die Krankheit auf.

Die Krankheit breitet sich aus

Doch warf die Krankheit sie erneut zurück. Das Lipödem brach auch an ihren Armen aus und die Schmerzen in den Beinen kamen wieder zurück. Sprott saß neben ihrem Freund im Auto und musste ihn bitten anzuhalten. "Ich konnte einfach nicht mehr sitzen", erinnert sie sich, "so sehr tat es weh." Sie entschied sich für die Liposuktion, eine spezielle Form der Fettabsaugung, um die kranken Fettzellen aus dem Gewebe zu entfernen. "Ich hatte Panik", gesteht sie, "ich war gerade mal 25 und konnte kaum mehr länger als eine halbe Stunde sitzen."

Schauspielerin Madlen Kaniuth ging nach der Diagnose denselben Weg. "Nach gut 20 Jahren ständiger Selbstzweifel und Diätwahn", sagt sie, "fehlten mir für die konventionellen Therapien, Kompression und Lymphdrainage, einfach die Kraft." Auch beruflich wären das Tragen von Kompressionskleidung und die Termine zur Lymphdrainage schwierig geworden.

Welche Zellen krank sind und welche gesund, lässt sich punktuell jedoch kaum voneinander unterscheiden. Bei der Liposuktion wird das Fett deshalb nicht nur dort abgesaugt, wo das Lipödem besonders stark ausgeprägt ist, sondern auch drumherum. Bei Kaniuth waren es allein an den Beinen zehn Liter Fett, bei Sprott elf. Insgesamt ließ sie sich nun dreimal operieren. Die Kosten von insgesamt rund 14.000 Euro musste sie selbst zahlen.

Obwohl die Krankheit so weit verbreitet ist, gilt die Liposuktion in Deutschland immer noch als Neue Untersuchungs- und Behandlungsmethode (NUB) und wurde noch nicht in den Leistungskatalog der Krankenkassen aufgenommen. Wie oft die Betroffenen operiert werden, muss individuell entschieden werden.

Die Liposuktion ist jedoch keine Schönheits-OP. "Die Dellen in der Haut bleiben", erklärt Sprott, "und sie wird schlaff." Auf ihrem Blog schreibt sie: "Ich kann mit meinen Unterarmen jetzt wedeln." Dafür seien die Schmerzen weg. Zumindest temporär. Anderthalb Jahre ist der Eingriff nun her und Sprott merkt: Es geht wieder los, schon wieder tun ihre Beine weh. "Beim Absaugen wurden anscheinend nicht alle kranken Zellen entfernt", sagt sie, "oder sie sind neu mutiert."

Statt sich zu Hause in ihrem Zimmer einzuschließen und sich selbst zu bemitleiden, startete Sprott auf ihrem Blog, den sie mittlerweile zusammen mit vier Freundinnen betreibt, das Phoenix-Projekt: eine Online-Initiative für Betroffene. "Ihr seid Herr (Frau) über Euren Körper und sonst niemand, auch nicht das Lipödem oder die Kompression!", schreibt Sprott selbstbewusst. Sie will anderen Betroffenen Mut machen – und auch sich selbst.

Anfang Januar 2017 ist das Projekt gestartet und schon jetzt zählen die Fotos, die auf Instagram unter #lipödemphönix und #phönixprojekt gepostet wurden, mehrere Hundert Likes.

"Die Krankheit", sagt Sprott, "soll mein Leben nicht beherrschen."