Es fühlt sich seltsam an, ausgerechnet an einem strahlend schönen Sommertag ein Hospiz zu betreten. Ich stehe vor einem Neubau mit vielen großen Fenstern, friedlich, etwas abseits von der lauten Straße gelegen, umringt von vielen stattlichen grünen Bäumen, nur ein paar Meter entfernt von einem Schlosspark. Beste Lage und viel Ruhe. Ich denke, könnte schlimmere Orte geben, und betrete das Gebäude.

Mein erster Eindruck ist durchweg gut. Die Räumlichkeiten sind gepflegt und ansehnlich, alles ist hell und freundlich. Und doch mischt sich hier ein anderes Gefühl dazu. Eines, das diese Einrichtung doch sehr ernst wirken lässt. Irgendwie anders als alle Orte, dich je zuvor betreten habe. Alles ist ein bisschen gedämpfter und friedlicher als in der geschäftigen Welt draußen. Es ist schwer, dieses Gefühl in Worte zu fassen. Vielleicht ist es das Unbehagen vor einem Ort, an dem der Tod regelmäßig ein- und ausgeht? Oder ist es die große Anhäufung menschlichen Leids und Schmerzes, die hier irgendwie zwischen den Wänden hängt?

Es geht nicht mehr ums Heilen – es geht ums Schmerzenlindern

Patient*innen, Gäste oder Bewohner*innen nennt man diejenigen, für die die Schulmedizin ihre Möglichkeiten ausgeschöpft hat und die nun ihre letzten Tage, Wochen oder auch Monate in Ruhe und Frieden in einem Hospiz verbringen können. Das ist in einem Krankenhaus bei massivem Personalmangel und einem hektischen Tagesbetrieb bisweilen schwer möglich. Die Einlieferung in ein Hospiz erfolgt immer freiwillig und mit dem Wissen, dass man unheilbar krank ist und nur wenig Zeit hat. Es ist ein Ort, an den Menschen kommen, um zu sterben und ihre Zeit bis dahin so schmerzfrei und selbstbestimmt wie möglich leben wollen.

Die Einlieferung in ein Hospiz erfolgt immer freiwillig und mit dem Wissen, dass man unheilbar krank ist.

Um dieses hohe Ziel auch bei fortschreitender schwerer Krankheit aufrecht erhalten zu können, bedarf es speziell geschulten Pflegepersonals, sogenannten Palliativfachkräften. Heute kann ich einen Tag lang eine von ihnen begleiten. An der Seite von Iris darf ich im Hospiz mitlaufen, Eindrücke gewinnen und Menschen auf beiden Seiten kennenlernen.

Wir gehen gemeinsam in die Zimmer der Patient*innen, Iris stellt mich kurz vor, wer ich bin und was ich hier mache. Mein Anliegen, einen Artikel über diesen Ort und dem Umgang mit unheilbar kranken Menschen und dem Tod zu schreiben, fühlt sich seltsamerweise auf einmal ziemlich belanglos an. Ich kann nicht so genau sagen, warum. Es ist wahrscheinlich Ehrfurcht vor dem, was hier zum Alltag gehört, vor den kranken Menschen, die schon so viel Leid erleben mussten, vor den Menschen, die hier tagtäglich arbeiten und Großartiges leisten und letztendlich natürlich auch große Ehrfurcht vor dem Leben und dem Tod.

Kein Krankenhaus, sondern das letzte Zuhause

Die Zimmer der Gäste sehen unterschiedlich aus, jede*r hat persönliche Habseligkeiten im Raum verteilt. Viele Fotos an den Wänden, Schwarz-Weiß-Bilder vergangener Tage, Fotos der Enkelkinder, der Kinder, der Eltern. Auch wenn manche Gäste nicht sehr lange im Hospiz bleiben, so spürt man doch deutlich: Das hier ist kein anonymes Krankenzimmer. Es ist das letzte Zuhause der Menschen.

Es ist kurz nach 13 Uhr. Iris fragt die Gäste, was sie heute essen wollen. Backfisch oder eine Tomatencremesuppe stehen zur Auswahl. Eine ältere Dame um die 80, die hier aufgrund von Brustkrebs liegt, nimmt gerne beides. Auf ihrem grellpinken T-Shirt steht in großen Buchstaben live free, laugh loud, love much. Diese Zeilen auf einem Kleidungsstück würde ich in der Welt da draußen ziemlich dämlich finden, hier drinnen bekommen sie eine ganz andere Bedeutung. Sie machen mich ein bisschen wehmütig.

Ich versuche mit der Dame zu plauschen, vielleicht etwas über ihren aktuellen Gemütszustand zu erfahren. Sie ist freundlich, antwortet mir, aber ich stelle schnell fest, dass sie keinerlei Interesse hat, mit mir ein Gespräch zu führen. Sie wirkt sehr müde. Ihre glasigen, hellen Augen schauen immer wieder gedankenverloren aus dem Fenster, während ich mit ihr rede. Mir fallen ihre vielen hellen Härchen auf den Armen auf und ihre bläulich angeschwollene rechte Hand. "Das kommt vom Tumor", sagt sie, "die Lymphflüssigkeit kann nicht mehr abfließen."

Mich befällt eine gewisse Schwere. Die sichtbaren körperlichen Leiden, der Geruch eines schwer kranken Menschen, der dezent im Raum hängt, nicht unangenehm, nicht auffällig, aber wahrnehmbar – das alles lässt den Tod spürbar werden. Ich kann die Müdigkeit der Dame gut nachvollziehen und da ich sie nicht unnötig belasten möchte, beschließe ich, recht schnell wieder aus dem Zimmer zu gehen. Sie macht auf mich den Eindruck, als ob sie keine große Angst mehr hat, nicht mehr gegen das Unaufhaltsame ankämpft. Müde eben.

Auch ein sterbender Körper hat noch Gelüste

Iris ist bereits in der Küche und bereitet das Essen für die Dame vor. "Essen ist hier ein ganz großes Thema", sagt sie. "Die meisten Patienten wollen nur ganz kleine Portionen, aber hin und wieder haben sie ganz kurzfristige Gelüste nach etwas. Und wenn man die nicht gleich erfüllt, sind sie wieder weg. Das wäre in einem Krankenhaus natürlich gar nicht machbar."

Der Backfisch ist fertig. Riecht echt ganz lecker, gar nicht wie Krankenhausfraß. Iris holt buntes Geschirr aus den Wandschränken und richtet das Essen liebevoll an. Das Auge isst eben mit. Sie verschwindet, um der Dame ihr Mittagessen und ihre Medikamente zu verabreichen. Die richtige medikamentöse Einstellung ist in der Palliativmedizin essenziell. Schmerzen zu lindern, ist oberste Priorität.

Ich bin alleine in der Küche, als ein braungebrannter, sportlicher Herr mittleren Alters und ein etwa zwei Jahre alter Junge hereinkommen. Ich sage kurz Hallo. Der Mann füllt dem kleinen Jungen einige Gummibärchen in eine Schüssel, auf die er offensichtlich schon lange gewartet hat. Iris kommt zurück und begrüßt den Mann. Sie stellt ihn mir als Rolf vor und meint, ich könne mit seiner Frau sprechen. Wie schon zuvor komme ich in die Situation, mein Anliegen zu erklären und bin dabei seltsam befangen.

Rolf reagiert sehr positiv, hört sich alles konzentriert an und schlägt dann vor, gemeinsam in den Brunnenhof des Hospizes zu gehen. Dort liegt seine Frau in ihrem mobilen Krankenbett, um heute an diesem warmen Sommertag ihren 53. Geburtstag zu feiern.

Der Hof des Hospizes ist von stattlichen Bäumen eingerahmt, in der Mitte liegt ein kleiner, rechteckiger Brunnen umgeben von groben Steinen. Auf der linken Seite des Hofes steht ein Krankenbett mit einem dunkelhaarigen Mann. Er hat eine Sonnenbrille auf und ist schätzungsweise Mitte 30. Wie ich später erfahre, ist das der Vater des kleinen Jungen. Er hat einen Gehirntumor.

Genau wie Ida, die Frau von Rolf, deren Bett auf der anderen Seite des Hofes im Schatten eines Baumes steht. Rolf und ich setzen uns auf die Steine des Brunnens und er erzählt mir über die Geschichte seiner Frau. Wie der Tumor vor zwei Jahren kam, wie alles anfing, wie schwer es war. Müdigkeit, Ida hatte immer diese nicht enden wollende Müdigkeit. Es folgt die Leidensgeschichte einer Krebspatientin: Chemo, kurze Besserung, dann kommt der Krebs schlimmer als zuvor zurück. Rolf hat seine Frau ein halbes Jahr lang alleine zu Hause gepflegt. Ich verspüre einen tiefen Respekt gegenüber diesem immer noch so positiv wirkenden Mann, für seine Kraft und die unerschütterliche Liebe gegenüber seiner Frau.

In Worte fassen kann ich diesen Respekt gegenüber Rolf nicht. Ich fürchte, es würde sich nur schleimig und überzogen anhören. Irgendwann konnte Rolf nicht mehr weiterpflegen, musste wieder arbeiten gehen und Geld verdienen, erzählt er. Seit einer guten Weile ist Ida nun im Hospiz. Rolf arbeitet von Dienstag bis Donnerstag, den Rest der Zeit ist er rund um die Uhr bei seiner Frau. "So, komm, dann gehen wir jetzt mal zu Ida", sagt er. Ich habe Angst. Schon wieder Angst, etwas falsch zu machen, zu stören und insbesondere davor, dass mein Anliegen unangebracht erscheinen könnte.

Geburtstagsfeier im Hospiz

An Idas Bett sind Luftschlangen und Luftballons gebunden. Auf einem kleinen Tisch stehen Sonnenblumen und Geschenke. Die ersten Worte, die ich mit Ida wechsle, sind etwas holprig. Sie kann aufgrund ihres vorangeschrittenen Tumors nicht mehr so gut sehen und sie spricht sehr langsam. Ihre großen grünen Augen sehen mich konzentriert an.

Ich kann weder darin noch in Idas Mimik eine eindeutige Emotion lesen. Vielleicht kommt das auch vom Tumor und den Medikamenten, die Ida nehmen muss. Ich fühle mich hilflos, unwohl, will sofort wieder gehen, weil ich sie doch an ihrem Geburtstag und ihrer jetzigen Situation nicht belasten möchte. Das sage ich auch. Aber Ida meint, es ist okay, wenn ich bleibe. Dann schaut sie etwas länger in die paar Stücke blauen Sommerhimmels, der durch die Bäume scheint, und Tränen steigen ihr in die Augen.

Ich kann fühlen, wie ich jeden Tag schwächer werde.
Ida

"Das ist mein Geburtstag heute, ist doch alles scheiße so!" Was soll man darauf sagen? Hilflosigkeit. Ich entschließe mich dazu, ihre Hand zu nehmen. Das würde ich bei einer 50-jährigen Frau, die ich noch nie zuvor im Leben gesehen habe und gerade mal fünf Minuten kenne, sonst nicht tun. Idas Hände sind nicht warm oder kalt, aber sie hat unfassbar weiche, dünne Haut.

"Ich kann fühlen, wie ich jeden Tag schwächer werde", sagt sie mit Tränen erstickter Stimme. Ich habe das Bedürfnis, ihr etwas Lustiges zu erzählen, damit sie das kurz vergessen kann und wieder lacht. Ich möchte so gerne, dass Ida fröhlich ist. In diesem Moment ist es mir völlig egal, warum ich hier bin. Ich erzähle irgendetwas Belangloses und schaffe es tatsächlich, dass Ida nicht mehr so auf ihre momentane Situation und das Leid, den Schmerz fokussiert ist.

Sie erzählt mir, dass sie heute noch gemeinsam mit ihrer Familie in den Biergarten und in die Eisdiele geht. Ida liebt Eis. "Ich bin süchtig nach dem Zeug", sagt sie. So sitze ich noch eine Weile bei Ida und ihrer Familie. Ich fühle mich geehrt, dass sie mich an ihrer Geschichte teilhaben lassen. Zum Abschied sagt Ida zu mir: "Das war sehr mutig von dir, dass du mich angesprochen hast." Danke Ida, danke für deine lieben Worte. Du bist eine starke Frau.

Krankheit, Tod und Schmerz gehören mit dazu

Als ich mit dem Rad nach Hause fahre, tut mir mein Herz weh. Das hört sich vielleicht übertrieben an, es ist aber so. Alles um mich herum, der Lärm, die Menschen, die Sonne, der Verkehr fühlen sich nach zu viel an. Krankheit und Tod, Schmerz und Leid sind keine Dinge, die einfach so an einem vorübergehen. Aber sie sind da und sie sind Bestandteile eines Menschenlebens. Das vergessen gesunde Menschen oft. Diese Erkenntnis war neben der Neugier, wie Angehörige und Kranke mit ihrer Situation umgehen, wie sie ihren Alltag leben, Teil meiner Motivation ein Hospiz zu besuchen.

Aus diesem Grund bin ich trotz meiner momentanen Traurigkeit dankbar darüber, so großartige Menschen getroffen zu haben. Menschen, die Facetten des Lebens erfahren haben, die den meisten von uns bisher erspart geblieben sind, aber deren Gesellschaft, Herzlichkeit, Vertrauen und Güte mir deshalb so wahr und schnörkellos erscheinen.