Für die israelische Hilfsorganisation IsraAid leitet Sarit Ohayon ein Team aus israelischen und palästinensischen Freiwilligen. Seit November befinden sie sich in Idomeni, einem kleinen Grenzdorf in Zentralmakedonien. In einem Camp für Geflüchtete warten dort tausende Menschen darauf, Griechenland verlassen zu können.

ze.tt: Sarit, Israel und Syrien sind verfeindet, in großen Teilen der arabischen Welt gilt Israel als das Böse schlechthin. Wie haben die syrischen und irakischen Geflüchtete auf dich reagiert?

Sarit Ohayon: Anfangs habe ich aus Sicherheitsgründen meine nationale Identität verschwiegen, erst nach einiger Zeit habe ich mich vorsichtig offenbart. Zu meiner Überraschung haben die meisten Flüchtlinge sehr herzlich reagiert: "Hey, wir sind Nachbarn! Ahlan wa Sahlan! [‚Willkommen’ auf Arabisch]" Das war so herzerwärmend! Ich habe ein wundervolles Paar aus Damaskus kennengelernt, Suheir und Ahmed. Sie haben mich in ihr Zelt zum Kaffee eingeladen. Wenn ich sage, dass 57.000 Flüchtlinge in Griechenland gestrandet sind, dann bedeutet das nichts. Aber wenn ich erzähle, wie Suheir und Ahmed mir in ihrem improvisierten Heim Kaffee gekocht haben, dann bekommt die Krise plötzlich ein Gesicht. Selbst in der Not haben diese Menschen noch etwas zu geben, sie sind nicht nur passiv und hilflos.

Wie sieht dein typischer Arbeitstag im Camp aus?

Es gibt keinen typischen Arbeitstag, die Situation ist fragil und kann sich stündlich ändern, entweder durch politische Entscheidungen oder Handlungen der Flüchtlinge selbst. Vor ein paar Tagen zum Beispiel wollten wir im Camp psychosoziale Sitzungen abhalten. Doch dann haben Flüchtlinge am Zaun protestiert, griechische und mazedonische Polizisten haben Tränengas und Gummigeschosse eingesetzt, und es war zu gefährlich, das Camp zu betreten. Also mussten wir die Sitzungen spontan absagen. Jeder Tag ist eine emotionale Achterbahn.

Was brauchen die Geflüchteten am dringendsten?

Ihre Freiheit. Diese Menschen haben alles verloren, selbst die Freiheit, über ihr eigenes Schicksal zu entscheiden. Wer sieht, unter welchen Bedingungen sie hier leben, der begreift: Sie müssen einen sehr guten Grund gehabt haben, ihre Heimat zu verlassen. Sie schlafen monatelang in Zelten ohne Matratze. Im Winter sind die Temperaturen unter null Grad Celsius gefallen – ein Glück, dass niemand erfroren ist! Wenn es regnet, ist alles matschig. Und seit die Grenze geschlossen wurde, sind die Zustände noch schlimmer. Morgens stehen Hunderte stundenlang für eine Dusche an. Und sie können nicht täglich duschen, denn dann verpassen sie es, sich in die Schlange für die Essensausgabe zu stellen. Viele leiden unter Krätze oder Flöhen, kein Wunder bei den sanitären Bedingungen, und oft fehlt es an Medikamenten. Ich glaube, seit dem Zweiten Weltkrieg hat es nicht mehr eine solche humanitäre Krise gegeben. Manchmal bin ich kurz davor, zu verzweifeln – und ich frage mich: Was läuft bloß falsch auf der Welt?

Wie können du und die Freiwilligen helfen?

IsraAid ist spezialisiert auf psychosoziale Hilfe und hat damit gute Erfahrungen in Ländern wie dem Südsudan, Sierra Leone und den Philippinen gemacht. Hier in Idomeni halten wir psychosoziale Gruppen- und Einzelsitzungen ab. Alle Freiwilligen und ich sprechen Arabisch, das ist ein großer Vorteil. So haben wir zum Beispiel einen syrischen Jungen mit posttraumatischer Störung behandelt, dessen Vater im Krieg gefallen ist. Einen Monat lang hat der Junge sein Zelt nicht verlassen und mit niemandem gesprochen. Inzwischen interagiert er wieder, und er zeichnet sogar seinen Vater – ein großer Fortschritt. Ein anderes Mal hat mein Team ein Baby entbunden. Unter derart abnormalen Bedingungen haben wir geholfen, neues Leben in die Welt zu bringen. In solchen Momenten hat man das Gefühl, man tut etwas, das ein bisschen größer ist als man selbst.

Haben deine Erfahrungen im Camp dein Bild von Europa verändert?

Ich kann nur hoffen, dass Europas Politiker und ihre Gesellschaften von der Vergangenheit lernen. Denn die Flüchtlinge werden vermutlich lange Zeit in Europa leben, und die Welt hat eine Verantwortung, ihnen eine bessere Zukunft zu ermöglichen. Man muss ihnen eine faire Chance geben, Zugang zu Bildung und die nötigen Mittel bieten, sich ein neues Leben aufzubauen. Man muss sie als gleichberechtigt akzeptieren und nicht an den Rand der Gesellschaft drängen. Ein elfjähriger Junge ist kein Terrorist – und er wird auch keiner, wenn man ihn nicht dazu erzieht. Gibt man ihm eine faire Chance, könnte dieser Junge der nächste Präsident Syriens werden.

Wie hat die Arbeit dich als Person beeinflusst?

Ich habe gelernt, weniger schnell über andere zu urteilen und mehr Mitgefühl zu empfinden. Ich habe gesehen, was Solidarität bedeutet: Ja, wir sind alle Individuen – und doch immer Teil von etwas Größerem. Ich habe begriffen, dass es keine Schwäche ist, verwundbar zu sein. Und ich nehme nichts mehr als selbstverständlich hin. Jedes Mal, wenn ich im Camp ein bisschen friere, sage ich mir: Heute Abend gehe ich zurück in mein Gästehaus, mit Bett, Heizung und fließend Wasser. Für zehntausende Menschen nur ein paar Kilometer entfernt von mir ist das absoluter Luxus!