Ich war 18, als ich aus meinem Elternhaus auszog. Endlich raus aus diesem immer gleichen Alltag, endlich Abstand von diesen immer gleichen Menschen, den immer gleichen Gesprächen. Auch, wenn meine Freund*innen und ich uns beim Abiball noch schluchzend in den Armen lagen, weil es jede*n von uns woanders hin verschlagen sollte, war ich froh über den anstehenden Tapetenwechsel.

Und umso schockierter war ich schließlich über mich selbst, als ich einige Wochen später nach einem Heimatbesuch, auf der mehrstündigen Zugfahrt zum neuen Zuhause bitterlich zu weinen anfing. Ich musste mir eingestehen: Ich hatte herzzerreißendes, lähmendes Heimweh.

Nach der anfänglichen Euphorie gab es plötzlich immer mehr Tage, an denen ich mich nach Vertrautem sehnte. Ich vermisste es, Menschen um mich herum zu haben, mit denen ich gemeinsame Erinnerungen teile, die mir ansehen, wenn ich traurig oder glücklich bin, ohne dass sie mich danach fragen müssen, die wissen, wann Schweigen besser ist als Reden, die meinen Sarkasmus kennen und meinen Humor verstehen.

In diesen Momenten wollte ich nicht nur bloß mit meiner Mutter telefonieren, sondern mit ihrer leibhaftigen Version auf der Couch sitzen und Tee trinken. Ich wollte mich nicht mehr ständig in der neuen Stadt verlaufen oder mein Geld für Staubsaugerbeutel ausgeben. Plötzlich erschien mir meine Heimat als der schönste Ort der Erde – auch, wenn ich ganz genau wusste, dass ich vor Kurzem noch anders gedacht hatte.

Heimweh ist unsere Reaktion auf ein völlig neues Leben

Heimweh war für mich immer etwas, das Kinder haben, wenn sie auf Klassenfahrt fahren oder das erste mal bei Freunden übernachten. Jetzt hatte ich Heimweh, obwohl ich schon lange kein Kind mehr war – auch, wenn ich mich so fühlte.

Als ich mit Freund*innen aus der Schulzeit über ihre Heimweh-Erfahrungen sprach, stellte ich fest, dass es den meisten so erging wie mir. Dabei berichteten mir alle, dass sie sich in der neuen Umgebung und mit den neuen Aufgaben überfordert fühlten.

Der Therapeut Christoph Uhl erklärt, wie Heimweh und Überforderung zusammenhängen. In einer neuen Umgebung würden wir Sicherheiten und Strukturen verlieren. Dieser Verlust kann vom Reiz des Neuen nicht immer vollständig aufgefangen werden. Diese Prozesse würden sich, laut Uhl, zu weiten Teilen im Unterbewusstsein abspielen: "Rein rational kann man die Zusammenhänge zwar verstehen, aber nicht automatisch die damit verbundenen Empfindungen auch auflösen."

Heimweh ist unsere Reaktion auf ein völlig neues Leben – das kann schon mal Angst machen. Ergo sehnen wir uns nach dem Vertrauten, dem einfachen Leben, in dem wir vielleicht auch einfach ein paar Sorgen weniger hatten.

Der Heimweh-Prozess vollziehe vier Phasen, so Uhl.

  1. Die erste Phase sei gekennzeichnet von Euphorie über alles Neue.
  2. In der zweiten Phase stellt sich dann bereits Ernüchterung ein, wenn wir feststellen, dass nicht alles perfekt ist dort, wo wir jetzt sind und wo wir unbedingt hin wollten.
  3. In der dritten Phase folge dann das, was wir als Heimweh kennen: sich zurückziehen und wehmütig zurückblicken.
  4. Und in Phase vier würden wir uns schließlich erholen. Wir lassen uns auf die neue Kultur und das neue Umfeld ein und haben einen Weg gefunden, uns mit den Neuerungen zu arrangieren und sie als Bereicherung in unserem Leben zu integrieren, erklärt Uhl.

Mit Geduld und Offenheit gegen Heimweh

Und was hilft nun gegen Heimweh? Immer wieder stoße ich im Internet auf den Ratschlag, erst einmal jegliche Verbindungen nach Hause abzubrechen. Ich muss an meine Mutter denken, die nach meinem Umzug ähnlich gelitten hat, wie ich; den Kontakt zu ihr abzubrechen, wäre für mich keine Option gewesen.

"Ein bisschen Kontakt zu halten ist total gesund", meint Uhl. "Die Mischung macht's: Sich in einer ausgewogenen Verhältnismäßigkeit sowohl dem Neuen als auch den Kontakten daheim zu widmen, ist der Königsweg." Aber das sei auch eine individuelle Entscheidung. Vor allem sei es aber wichtig, sich auf das neue Leben einzulassen, mit etwas Geduld ließe sich Heimweh gut überwinden.

Inzwischen wohne ich seit mehr als fünf Jahren nicht mehr dort, wo ich aufgewachsen bin – und mein Heimweh ist nie ganz verschwunden. Es gibt immer noch Tage, an denen ich gern in meinem alten Zuhause wäre. Weil das aber nicht immer ohne Weiteres möglich ist, genieße ich meine Besuche umso mehr. Es ist jedes Mal ein kleines bisschen wie Urlaub.

Von einigen Freund*innen weiß ich, dass sie ihr Verhältnis zu den Zurückgelassenen (zum Beispiel den Eltern) nach ihrem Auszug verbesserte. Das lag auch daran, dass sie in der Fremde plötzlich merkten, wie wichtig diejenigen ihnen eigentlich sind.

Am Ende entscheide unser Umgang mit Heimweh darüber, ob wir aus dieser Phase geschwächt oder gestärkt hervorgehen, erklärt mir Uhl. Wer aus Furcht vor Heimweh lieber beim Vertrauten bleibt, der könne daran nicht wachsen. Wer sich aber dem Heimweh stelle, könne seiner Persönlichkeit einen enormen Entwicklungsschub verpassen. Trotzdem gehöre dazu aber eben auch immer ein bisschen Mut.