Ihren persönlichen Tiefpunkt erlebte Melanie Schaible in Thailand. Sie saß dort auf einer Insel, neben ihr rauschte das Meer, Palmen spendeten ihr Schatten, sie war mitten im Paradies – und alles, woran sie dachte, war, wie ihre nackten Oberschenkel im Sitzen aussehen. Etwas zu breit? Irgendwie schwabbelig? Als sie sich dessen gewahr wurde, wusste sie: So geht es nicht weiter.

Bis Melanie an diesem Punkt war, hatte sie schon viele Diäten ausprobiert: Low Carb, 801010, Starch Solution, Punkte zählen. Über Jahre suchte sie nach der perfekten Möglichkeit, um abzunehmen. Es plagte sie die Frustration, wenn es nicht klappte. "Ich war nie richtig zufrieden mit mir und meinem Körper. Wenn ich eine Diät nicht durchhielt, fühlte ich mich wie eine Versagerin", erzählt die junge Frau mit der Kurzhaarfrisur.

Entspannt sitzt sie auf dem tiefen Ledersofa ihres veganen Lieblingscafés im Berliner Prenzlauer Berg, die Beine übereinandergeschlagen. Das Gefühl, nur als schlanker Mensch ein guter Mensch zu sein, saß tief. Ihrem erinnerungsschweren Lächeln sieht man es noch an. Zufällig stieß sie damals in Thailand auf eine Facebook-Gruppe, in der das Buch "Intuitiv abnehmen" von Eyse Resch und Evelyn Tribole empfohlen wurde. "Der deutsche Titel ist verkehrt", sagt Melanie. "Denn im Englischen heißt es 'Intuitive eating', also 'intuitiv essen'. Um abnehmen geht es dabei gar nicht – sondern darum, wieder so zu essen, dass es dem Körper guttut."

Es ist so einfach: Iss, wenn du hungrig bist und das, worauf du Lust hast

Melanie fühlte sich angesprochen von der Idee des intuitiven Essens. Und probierte es aus. Mittlerweile isst sie schon seit knapp zwei Jahren so. Der Kern dessen besteht aus einfachen Grundsätzen, die man verinnerlichen muss: Erst zu essen, wenn man wirklich hungrig ist und aufzuhören, wenn man gesättigt ist. Und zu essen, worauf man Lust hat. Es wird nicht unterschieden zwischen guten und bösen Lebensmitteln, es gibt keine Regeln, es geht nicht um möglichst viel Gewichtsverlust in kurzer Zeit. Sondern darum, sein gesundes Essverhalten zurück zu entwickeln.

Ernährungswissenschaftler Uwe Knop gibt ähnliche Tipps. "Auf die Frage, welche Lebensmittel gesund sind und welche nicht, gibt es keine Antwort, die Wissenschaft hat keinerlei Beweise", sagt er. Das bekam er bei seinen Recherchen für sein Buch "Ernährungswahn" heraus, bei dem er über 1000 Studienergebnisse analysierte. "Außer dem eigenen Körper kann einem niemand sagen, was guttut und was nicht. Statt die Lebensmittel in 'gut' und 'schlecht' einzuteilen, sollte man – ethische Aspekte einmal außer Acht gelassen – nur nach 'schmeckt mir' und 'schmeckt mir nicht' unterscheiden. Und auch schauen, was man gut verträgt."

Pfeift man sich da nicht nur Schokolade rein?

Das zu hören, macht erst einmal skeptisch. Pfeift man sich da nicht den ganzen Tag nur Schokolade rein, isst zu wenig Gemüse und viel zu viele Kalorien? "Am Anfang ist das total komisch", erinnert sich Melanie, die nun eine große Tasse voll Milchkaffee mit Hafermilch in der Hand hält. "Man hat so viele Regeln gelernt, so viel gelesen, was ungesund und was gesund sein soll. Das muss man erst mal aus dem Kopf kriegen."

Sie hatte die ersten Wochen vor allem Lust auf Oreo-Kekse und davon so viele gegessen, dass sie sie nun nicht mehr anrühren mag. Aber das ging vorbei. "Es ist auch wahnsinnig schwer, dieses natürliche Gefühl für den Körper wiederzuerlangen. Also zum einen zu essen, worauf man wirklich Lust hat und zum anderen erst dann, wenn man wirklich Hunger hat." Und natürlich sei ohne die gewohnten Regeln auch die Angst groß, plötzlich zuzunehmen.

Laut Knop müsse man diese Angst aber nicht haben – solange man nur dann esse, wenn man wirklich Hunger habe. "Der körperlich-biologische Hunger sagt dem Menschen, wann er wieder Nährstoffe braucht", erklärt er. "Dann gibt es aber auch noch nicht-echten Hunger, also das, was man heutzutage 'emotional eating' nennt. Also wenn man aus Gewohnheit, Langeweile, Frust, Stress oder Einsamkeit isst." Man müsse lernen, die beiden voneinander zu unterscheiden und sich dann nach dem körperlichen, dem echten Hunger richten. "Wer das Gefühl nicht mehr kennt, sollte seinen Hunger ausreizen", rät Knop. "Also beispielsweise morgens in sich hören: Spüre ich wirklich Hunger oder frühstücke ich aus Routine oder weil ich denke, es sei so gesund? Wenn kein Hunger fühlbar ist, dann warten Sie, bis Sie ihn spüren. Machen Sie das ein paar mal, dann kennen Sie ihren echten Hunger."

Als Melanie mit der intuitiven Ernährung begann, hat sie – geprägt durch das jahrelange Einhalten strikter Regeln – auch da versucht, alles richtig zu machen. Spürte sie ein Hungergefühl, fragte sie sich manchmal lange, ob das denn nun echter Hunger sei – und worauf sie denn nun wirklich Appetit hatte. Irgendwann, sagt sie, lerne man das aber. Und man lerne auch, was man selber wirklich gerne isst und was man nur gegessen hat, weil man es für gesund hielt. Heute weiß sie, was ihrem Körper guttut, kann für mehrere Tage einkaufen und planen und das intuitive Essen so in den Alltag integrieren.

Warum bin ich nicht einfach so zufrieden, wie ich bin?

Denn in der Anfangsphase hatte Melanie eine Erkenntnis: "Egal, welche Diät ich gerade gemacht habe, ich war ja doch nie zufrieden mit meinem Körper", sagt sie. "Also habe ich mich gefragt: Wenn eh nichts hilft – warum bin ich dann nicht einfach so zufrieden, wie ich bin?" Ein Vorsatz, der wunderbar leicht klingt, aber schwer umzusetzen ist. Zu tief sitzt die Unzufriedenheit und der Drang zur Perfektion.

Auch von den Einflüssen in Werbung, Zeitschriften und Co muss man sich erst einmal freimachen. "Irgendwann habe ich aber ein ganz neues Körpergefühl bekommen", sagt sie. "Vorher habe ich meinem Körper und seinen Signalen nur misstraut. Sie waren etwas, das ich mit den Ernährungsplänen in den Griff kriegen wollte. Heute vertraue ich ihm. Ich weiß, wenn ich das esse, wozu er mir durch Appetit das Signal sendet, geht es mir hinterher gut."

Bis sie an diesen Punkt gekommen ist, an dem sie sich über ihr Essen keine Gedanken mehr machen muss, sind ungefähr vier Monate vergangen. "Dann wurde plötzlich enorm viel Gehirnkapazität frei", sagt Melanie. "Endlich verinnerlicht zu haben, dass mein Körper so gut ist, wie er ist, ist unfassbar befreiend." Warum nicht alle Menschen intuitiv essen – wo es doch scheinbar einiges an Lebensfreude zurück gibt? "All die Diäten sind so viel anstrengender, als intuitiv zu essen", sagt Melanie. "Aber für das intuitive Essen müssten sie sich stärker mit sich selbst auseinandersetzen – das fällt vielen schwer." Sie würde sich aber wünschen, dass sich das bald mehr Menschen trauen. Und Schluss ist mit dem Diätwahn.