In der Nacht zum 1. März fahren zwei israelische Soldaten in ihrem Jeep jenseits eines Checkpoints über die Grenze. Die zwei Soldaten glauben, sich noch innerhalb der israelischen Grenze zu befinden. Tatsächlich aber sind sie längst im Niemandsland, genauer gesagt neun Kilometer nördlich von Jerusalem im Flüchtlingscamp Kalandia.

Das Camp ist seit seiner Gründung 1949 zu einer zwölftausend Einwohner-Stadt gewachsen. Ein Gewirr aus kaputten Straßen, verwinkelten Gassen, Steinhäusern und Bretterbuden. Eine Hamas freundliche "No-Go Area", von der sich sowohl die israelische Armee als auch die palästinensischen Sicherheitsbehörden fernhalten. Das Gebiet in der Westbank gehört zwar offiziell zur Area C, steht also unter israelischer Aufsicht, wird aber in Wahrheit sich selbst überlassen.

Spätestens als die ersten Steine und Molotov-Cocktails auf ihren Jeep prallen, muss den zwei israelischen Soldaten klargeworden sein, dass sie sich verfahren haben. Eine Brandbombe lässt ihr Fahrzeug in Flammen aufgehen. Die Soldaten springen heraus und flüchten in verschiedene Richtungen. Der eine fordert über Funk sofort Verstärkung an. Der zweite hat seine Sachen im Auto gelassen und kann nicht geortet werden.

Der Code für die IDF-Kollegen ist sofort klar: "Hannibal-Direktive". So bezeichnet die israelische Armee Einsätze, in denen Soldaten gerettet werden sollen. Um zu verhindern, dass sie lebend in Gefangenschaft geraten, ist es der Armee gemäß der Hannibal-Direktive erlaubt, ohne Rücksicht auf Kollateralschäden massive Feuerkraft einzusetzen.

Eine halbe Stunde später erreichen Luft- und Bodentruppen das Camp auf der Suche nach dem vermissten Soldaten. Sie liefern sich eine Straßenschlacht mit über tausend Palästinensern. Ein Palästinenser kommt dabei ums Leben. Ihren Kameraden finden die israelischen Truppen schließlich im Morgengrauen in einem Tal außerhalb der Stadt, erschöpft aber unverletzt.

Einen so heftigen Zwischenfall im Kalandia Camp hat es zuletzt 2013 gegeben. Die Armee führte damals eine Razzia durch, um einen mutmaßlichen Terroristen zu finden. Es kam zu Auseinandersetzungen im gesamten Camp. Viele Bewohner erinnern sich noch gut an diese blutige Nacht. Als sie am vergangenen Montag den verirrten Militärjeep sahen, mögen viele gedacht haben, es handele sich erneut um eine Razzia. Das erklärt zumindest teilweise, warum es zum Gewaltausbruch kam.

Vom Navi in die Irre geführt?

Aber warum verfahren sich zwei Soldaten in der Westbank? Gegenüber ihren Vorgesetzten erklärten die Soldaten, die Navigations-App Waze habe sie in die Irre geführt. Sie hätten nach der "kürzesten Route" gesucht und seien dann ins Camp geführt worden. Die bizarre Begründung war in Israel die Schlagzeile der Woche. So richtig glauben kann sie bis heute niemand.

Waze wurde 2006 von dem israelischen Start-up "Waze Mobile" entwickelt und 2013 an Google verkauft. Weil die App in Israel so beliebt ist und die verschiedenen Verwaltungszonen so unübersichtlich sind, bietet Waze eine spezielle Sicherheitsfunktion für die Region an. Sie vermeidet Routen, die als gefährlich gelten oder die nicht mehr unter israelischer Aufsicht stehen. Nutzer können die Funktion jedoch ausschalten, was die zwei Soldaten offenbar taten.

Eigentlich hätten die zwei Soldaten die App aber gar nicht erst einsetzen dürfen. Nach einem ähnlichen Zwischenfall vor zwei Jahren hat die Armee ihren Truppen offiziell untersagt, Waze zu benutzen, wenn sie in der Westbank unterwegs sind.

Dass Waze nun in den Google-Suchergebnissen im Zusammenhang mit dem Gewaltausbruch im Camp Kalandia auftaucht, gefällt dem Unternehmen natürlich nicht. "Alles in allem ist das ein wirklich sehr schlimmer Zwischenfall, den wir sehr bedauern!", sagt Christoph Hausel, PR-Manager von Waze in Deutschland. "Aber verstehen kann ich das nicht. Warum hatten sie die Sicherheitsfunktion ausgeschaltet? Und selbst wenn, stehen da nicht auch Warnschilder an den Straßen?"

Hausel ist nicht allein mit seinen Fragen. Auch das israelische Militär zögert, Waze die Schuld in die Schuhe zu schieben. In seiner offiziellen schriftlichen Erklärung erwähnt es die Navigations-App nicht. Und sowohl der Pressesprecher der Armee, Lt. Col. Peter Lerner, als auch der Verteidigungsminister Moshe Yaalon können die Erklärung der Soldaten noch nicht ganz nachvollziehen.

Lt. Col. Peter Lerner sagte gegenüber der New York Times: "Die Soldaten sollten eigentlich Armeekarten benutzen. Und die Route sollten sie eigentlich auch kennen." Verteidigungsminister Yaalon erklärte, ein Soldat dürfe sich nicht zu sehr auf eine App verlassen, deren vorgeschlagene Routen auf Crowdsourcing beruhen. Als er am Dienstag auf den Vorfall angesprochen wurde, befand der sich übrigens gerade auf einer Tech-Konferenz.