Am Dienstag platzte der Terror in meine Timeline. Ein Freund meldet per Facebook, er sei "in Sicherheit", dann zwei weitere, dann zehn.

Ich habe viele Freunde in Brüssel, weil ich dort bis vor wenigen Wochen studiert habe. Ich hatte mir die Stadt nicht ausgesucht, sie war mir vielmehr passiert, als vorgegebene Station im Rahmen meines Masterprogramms. Deshalb hatte ich als ich dort ankam auch keine Ahnung, wie schön, wie widersprüchlich, wie trotzig diese Stadt ist. Und wie europäisch.

Schon rein geographisch ist Brüssel das Herz Europas. Meine Freunde und ich nutzten das voll aus: In gerade einmal zwei Stunden waren wir zum Shoppen in Antwerpen, zum Trinken in Amsterdam, zum Tanzen in Paris. Im Oktober, vier Wochen vor den Pariser Anschlägen, besuchten wir ein Konzert im Bataclan. Vielleicht geht mir dieser neue Terror deshalb besonders nah.

Jener Terror, den ich aus den Nachrichten kannte, richtete sich oft gegen religiöse Überzeugungen, politische Gruppierungen oder Staatsapparate, zu denen ich nicht gehörte. Er berührte mich, aber er war weit weg. Die Attacken auf das Bataclan und den Brüsseler Flughafen hingegen galten mir. Sie galten allen, die genauso gern shoppen, trinken, tanzen gehen wie ich. Es waren Attacken auf unsere Freiheit.

0 oder 1, Krieg oder Frieden

Die Freiheit, ohne Pass in einen Zug steigen zu können, mit einem Handy, das dank eines EU-weiten Vertrages auch in meinem Zielland funktioniert, in dem ich kein Geld wechseln und mich nicht um eine Auslandsversicherung kümmern muss – all das macht mich zur begeisterten Europäerin.

Als solche war ich es gewohnt, binär zu denken: 0 oder 1, Krieg oder Frieden. Im Europa meiner Jugend herrschte eigentlich immer Frieden. Doch dann fuhren nach den Anschlägen in Paris plötzlich Panzer durch die Straßen von Brüssel und bewaffnete Soldaten bewachten den Campus meiner Uni. Das war nicht länger 0 oder 1. Der "Ausnahmezustand" war irgendwas dazwischen, und dieses Dazwischen machte mir Angst.

Die Metro fuhr nicht mehr, Museen und Kinos blieben geschlossen, Vorlesungen fielen aus. Niemand wusste, wie lang das gehen sollte: Bis die Polizei mit ihren Razzien fertig wäre? Bis Salah Abdeslam gefasst würde? Der IS besiegt?

Die Menschen in Brüssel blieben bewundernswert cool. Sie trotzten den Terroristen, indem sie ihren Alltag so gut es ging weiterlebten. Meine Freunde und ich versuchten dasselbe: Wir joggten im Parc Royal, trafen uns auf ein Bier in der Place Flagey und verlegten unser Seminar kurzerhand ins Wohnzimmer einer Kommilitonin. Während eines Großeinsatzes der Polizei fluteten wir den Twitter-Hashtag #BrusselsLockdown mit surrealistischem Cat Content, um die Terroristen zu verwirren.

Nach wie vor hatte ich keine Angst um mein Leben – davor, es zu verlieren. Aber ich bekam Angst davor, wie es sich verändern wird.

Die Terrorgefahr ist längst keine lokale, nationale Herausforderung mehr, sondern eine europäische. Sie ist überall da, wo ich bin, und wird sich nicht von heute auf morgen bannen lassen. Bedeutet das, dass der Ausnahmezustand zum Normalzustand wird?

In Brüssel haben sich die Behörden dieses Mal gegen einen Lockdown entschieden und bemühen sich, möglichst schnell zur Normalität zurückzukehren. Immerhin, die Metro fahre, schreibt mir ein Freund, und dieses Mal seien auch alle Geschäfte weiter geöffnet. Doch an meiner früheren Uni werden jetzt die Ausweise der Studierenden überprüft, und in den Straßen patrouillieren wieder Soldaten. Sie sollen ein Gefühl von Sicherheit vermitteln, aber in mir lösen sie Unsicherheit aus. Waffen in der Fußgängerzone bedeuten, dass das hier nicht mehr Frieden ist. Sondern das Dazwischen.

Die Frage ist, wie wir an der Gefahr wachsen können

Politiker diskutieren jetzt wieder, wie man Flughäfen und Bahnhöfe künftig besser sichern kann. Muss ich also für die Zugfahrt nach Paris bald meinen Pass einstecken? Meine Tasche kontrollieren lassen, bevor ich ein Restaurant betrete? Beim Kauf eines neuen Handys darauf achten, ob die Herstellerfirma mit dem FBI kooperiert? Ich möchte nicht in einem Europa leben, in dem Flecktarn zum Straßenbild gehört. In dem Sicherheit über Freiheit geht.

Ich glaube, dass das eine Gesellschaft ängstlich und unbesonnen macht. Die Frage ist, wie wir an der Gefahr wachsen können, anstatt an ihr zu zerbrechen.

Als es noch keine Erasmusprogramme und Billigflieger gab, kein EU-Freizügigkeitsgesetz und keine Flüchtlingskrise, erwuchs Gemeinschaft schon aus der gemeinsamen Vergangenheit. In der so wunderbar bunten, multikulturellen Gesellschaft, in der wir heute leben dürfen, sieht beim Blick zurück aber jeder etwas anderes. Mein Professor Eric Corijn sagt, dass wir die Gemeinschaft deshalb im Blick nach vorn suchen müssen, in einer gemeinsamen Vision.

Das wird anstrengend, denn die Terrorgefahr verschwindet nicht. Ich bin wütend, weil ich daran nichts ändern kann. Weil ich nicht mehr tun kann, als dieses verdammte Dazwischen auszuhalten. Aushalten, wenn jetzt wieder alle an Europa zweifeln. Aushalten, wenn die nächsten schlimmen Nachrichten kommen. Die Sprachlosigkeit aushalten, die Verzweiflung aushalten. Den Trotz durchhalten.