Lisa ist seit gut einem Jahr Mutter. Mit 22 Jahren hat sie sich bereits den Traum vom Eigenheim mit eigener Katze erfüllt. Auch eine Hochzeit mit dem Vater ihres Kindes ist geplant. Ihre Mutterschaft hat sie verändert: "Vor der Schwangerschaft waren andere Dinge, wie Feiern und Freunde treffen meine Hauptaktivitäten. Jetzt hab ich eine kleine Familie, um die ich mich kümmere und die für mich ganz wichtig ist."

Gehört sie damit schon in die Kategorie "Spießer"?

Was heißt denn nun spießig?

Früher war ein Spießer jemand, der "sich durch geistige Unbeweglichkeit, ausgeprägte Konformität mit gesellschaftlichen Normen, Abneigung gegen Veränderungen der gewohnten Lebensumgebung und ein starkes Bedürfnis nach sozialer Sicherheit auszeichnet" – so erklärt es zumindest Wikipedia. Der heutige Spießer definiert sich allerdings ein wenig anders. Das denkt auch Harry Luck. Er ist Autor des Buches "Wie spießig ist das denn?" Seiner Meinung nach ist "Spießer" heute kein Schimpfwort mehr, das für den engstirnigen Kleinbürger steht.

Sein Bild vom heutigen Spießer ist ein anderes: "Er trinkt Filterkaffee statt Latte Macchiato oder anderen aufgeschäumten Firlefanz, er bucht eine Pauschalreise mit Frühbucherrabatt statt Abenteuerurlaub und klatscht vielleicht sogar nach einer gelungenen Landung für den Piloten, auch wenn der das gar nicht hört. Er schaut ZDF statt Netflix, trinkt Apfelschorle und trägt im Sommer auch mal gerne ein bequemes Kurzarmhemd – für einen Hipster völlig undenkbar!"

Mit dem Begriff "Neo-Spießer", der für unsere heutige Generation gerne verwendet wird, tut sich Harry Luck aber etwas schwer: "Als junger Mensch findet man ja grundsätzlich alles uncool und spießig, was die eigenen Eltern machen. Das fängt bei den Klamotten an, geht über die Wohnungseinrichtung (Tapeten, Einbauschränke) und reicht bis zur Freizeit- und Lebensgestaltung. Wenn man dann selbst älter wird und vielleicht auch selbst Kinder hat, merkt man, dass diese vermeintlich uncoolen Dinge gar nicht so schlecht sind und das Leben verschönern können."

Generation Neo-Spießer

Auch Dina passt gut in Harry Lucks Beschreibung. Sie ist ebenfalls 22 Jahre alt und ihre Tochter eineinhalb. Grundsätzlich hat sie nicht das Gefühl, spießig zu sein: "Ich bin gepierct und tätowiert und das sehr offensichtlich." Dennoch lenkt sie ein: "Wenn es allerdings um meine Tochter geht, kann ich spießig sein. Hier gibt es feste Rituale, keine Knabbereien oder Süßes zwischendurch, auf den Einkauf wird geachtet und manchmal würde ich sogar behaupten, dass ich in der Hinsicht nicht nur spießig, sondern auch ziemlich öko bin."

Dieses Phänomen taufen Expert*innen Neo-Spießigkeit. Mehrere Studien der vergangenen Jahre wollen zeigen, dass dieser Trend in der Generation Y umgeht. Die Shell Studie hat beispielsweise herausgefunden, dass jungen Menschen die Familie immer wichtiger wird.

Im Bedürfnis nach Sicherheit sieht Dr. Klaus Hurrelmann, Bildungs- und Gesundheitsforschung an der Hertie School of Governance in Berlin, den Ursprung für die "neue Spießigkeit": "Weil die jungen Leute in einer riesigen, offenen Welt leben – alles ist zugänglich; digital ist international alles vernetzt. Gerade deshalb handelt es sich um eine Gegenbewegung; eine Art Vergewisserung, dass man auch irgendetwas hat, auf das man sich verlassen kann, was einem selbst gehört und was man selbst gestalten kann."

Fern von der Lebensrealität

Dem widerspricht Philipp Ikrath, Jugendforscher an der Universität Hamburg und Wien: "Das ist eine vollkommen lebensweltfremde Interpretation. Das ist ein perfektes Beispiel für Elfenturmdiagnostiker, die sich nicht in der Lebenswelt der Jugendlichen bewegen."

Er glaubt, dass diese Studien zwar die Wünsche der jungen Menschen zeigen, aber nicht ihren Alltag abbilden: "Wenn man nur auf die Ergebnisse schaut, könnte man ableiten, dass das ein Anzeichen von Spießertum ist. Aber wenn man in die Lebensrealitäten der Leute schaut, dann merkt man: Die haben ja alle gar keine Familie."

Hannah (24) hat zwar eine zwei-jährigen Sohn, dennoch weicht sie vom sogenannten Neo-Spießertum ab. Sie lebt in einer Wohngemeinschaft mit zwei anderen jungen Frauen. Diese sieht sie als ihre Familie an: "Ich bin alleinerziehend und kann beziehungsweise muss mich auf die Mithilfe der Anderen verlassen können. Sie helfen mir, meinen Sohn von der Kita abzuholen oder kochen für ihn mit." Hannah studiert noch und kann sich das Leben im Einfamilienhaus mit passendem Ehemann nur schwer vorstellen: "Auch wenn mein Kind nicht in dieser stereotypen Vorstellung aufwächst, sehe ich nicht ein, mich Erwartungen zu beugen. Ich glaube nicht, dass meinem Sohn etwas fehlt."

Sind die Kinder Schuld?

Dinas Freundeskreis hingegen hat sich hingegen verändert, seit Kinder da sind: "Früher war man jedes Wochenende feiern und heute explodieren die WhatsApp-Verläufe mit Müttern. Es wird ausgemacht, wann man wieder zusammen auf den Spielplatz oder für die Kids shoppen geht und fürs Feiern fühlen sich irgendwie alle, inklusive mir, einfach zu alt und ausgelaugt."

Früher hat Dina in den Tag hinein gelebt, heute ist ihr Sicherheit sehr wichtig. Vor allem seit sie sich von dem Vater ihres Kindes getrennt hat. Das war als die Kleine sechs Monate alt war. Momentan ist sie wieder in einer neuen Beziehung. "Ich hätte schon gerne irgendwann ein zweites Kind, das hat aber noch Zeit. Ich glaube in zirka fünf Jahren wäre es perfekt. Ich möchte mich nach der Elternzeit erst mal auf meine eigenen Ziele konzentrieren."

Auch für Lisa ist das besonders wichtig. Nach ihrem Mutterschutz, möchte sie sich selbständig machen. Auch das gehört für Dr. Klaus Hurrelmann zum Neo-Spießertum dazu. Die Generation Y lebt in einem ständigen Balancheakt – zwischen Karriere und dem Wunsch, Halt in der Familie zu finden. Das wiederum findet Philipp Ikrath nicht ungewöhnlich. Er würde das nur nicht als spießig bezeichnen, da Spießigkeit für ihn bedeutet, der Welt ablehnend gegenüber zu stehen: "Kinder zeigen den Menschen eine Perspektive außerhalb des Berufes. Ich glaube, die jungen Leute haben mitunter vielfältigere Lebensziele als die, die sich nur auf den Beruf konzentrieren."

Schlussendlich ist es schwer zu sagen, was genau heute spießig ist. Vor allem wenn Kinder im Spiel sind. Autor Harry Luck ist selbst Vater und der Überzeugung, dass seine Kinder ihn spießiger gemacht haben. Die Prioritäten verschieben sich: "Wenn man früher bis in die Morgenstunden auf Partys gefeiert hat, braucht man jetzt für jede Abendgestaltung außer Haus einen Babysitter – der natürlich nicht grenzenlos Zeit hat. Das führt dann dazu, dass man vielleicht als erster die Party verlässt."

Für Hannah ein No-Go: "Ich liebe meinen Sohn sehr und ich würde ihn nie als Einschränkung sehen. Ich kann weiterhin auch einmal feiern gehen oder einen Abend frei haben."