Lenas Vater ist Metallarbeiter, ein ganz normaler Job, denkt sie – bis sie an die Uni geht.

Lena ist 22 und studiert Medizin in Münster. In ihrem ersten Semester bemerkt sie, dass ihre Kommiliton*innen über Kunst und Kultur Bescheid wissen und überall hilfreiche Kontakte haben. In ihrer eigenen Familie kannte man nicht einmal Bafög. Wie sie trotzdem zu Selbstbewusstsein gekommen ist, hat Peter Weissenburger aufgeschrieben.

Semesteranfang, mit ein paar anderen Erstis stehe ich zusammen, das Gespräch kommt auf die Berufe der Eltern. Ich halte mich bei diesem Thema gerne zurück, denn ich fühle mich unwohl. Die anderen sagen Radiologin oder Gymnasiallehrer. Jedes Mal reagiert jemand mit "Ach cool, wo denn?" oder so ähnlich. Dann geht die Reihe unweigerlich an mich. "Und, was machen deine Eltern so?" "Mein Vater ist Metallarbeiter". Anfangen kann mit dieser Antwort niemand etwas.

Es ist das erste Semester, man will dazugehören, Freund*innen finden

Dass ich mich in dieser Unterhaltung unwohl fühle, hat nichts damit zu tun, dass ich mich für meine Familie schäme. Ich glaube auch nicht, dass meine Kommiliton*innen mich deswegen fertigmachen würden. Aber die Angst von oben herab behandelt zu werden – wenn auch ungewollt – ist trotzdem da. In meinem Stadtteil in Dortmund war Metallarbeiter*in ein stinknormaler Beruf, vielleicht sogar ein überdurchschnittlicher. Jetzt ist das anders, ich studiere Medizin in Münster, hier haben die Eltern fast immer studiert. Eigentlich sollte ich Anatomie lernen, stattdessen habe ich ein zusätzliches Prüfungsfach: die Akademiker*innenwelt.

Eigentlich sollte ich Anatomie lernen, stattdessen habe ich ein zusätzliches Prüfungsfach: die Akademiker*innenwelt.

Alle gehen ins Theater. Bis auf ein paar Jugendvorstellungen war ich noch nie im Theater. Ich kenne die Klassiker aus Kunst und Literatur nicht, über die meine Kommiliton*innen immer wieder ins Gespräch kommen. Also schnappe ich mir ein Kultursemesterticket und ziehe los, das aufzuholen. Beim Mediziner*innenball wird mir klar, dass Theater nicht meine einzige Lücke darstellt: Ich weiß auch nicht, was ein Dessertlöffel ist. Alle anderen am Tisch hingegen scheinen offenbar genau zu wissen, wie man das Besteck benutzt. Ich linse heimlich rüber zu den Fingern der anderen und versuche gleichzeitig, das Gespräch auf sicheres Terrain zu lenken.

"Da wird eh nie jemand von uns genommen"

Mein Studium finanziere ich mir zunächst mit Bafög, dann über ein Stipendium. Dass es solche Sachen überhaupt gibt, habe ich erst kurz vor meinem Studium erfahren. In meiner Familie wäre niemand auf die Idee gekommen, dass es fürs Studieren einfach so Geld vom Staat gibt, ältere Geschwister habe ich nicht. Und meine Schule, eine integrierte Gesamtschule in Dortmund, hatte mich trotz Einsnuller-Abi nicht für ein Stipendium bei der Studienstiftung vorgeschlagen. "Da wird eh nie jemand von uns genommen", sagt man mir auf Nachfrage. Man mache sich die Mühe nicht mehr. Auf mein Beharren haben sie sich die Mühe dann doch gemacht – und ich bin genommen worden.

Ich habe zwar nicht das Gefühl, dass ich einen grundsätzlichen Nachteil dadurch habe, Arbeiter*innenkind zu sein. Aber manchmal bin ich frustriert. Mir fehlt der Halt, den andere durch Kontakte automatisch zu scheinen haben. Unter meinen Kommiliton*innen kennt jede*r irgendwen in der Ärzt*innenwelt – Cousin, Tante, Freund der Eltern – der*die mit einem mal eben am Telefon ein paar grundsätzliche Fragen klärt: Wie verhalte ich mich auf einem Ärzt*innenkongress? Wie zur Hölle geht Mediziner*innen-Smalltalk? Während des Pflegepraktikums im Krankenhaus durfte eine Kommilitonin sogar schon mal in den OP reinschnuppern, weil dort ein Bekannter ihrer Familie arbeitet. Ich war derweil auf Station und habe Patient*innen gewaschen.

Klar, ich werde alles Notwendige natürlich auch irgendwie ohne Kontakte lernen. Aber es ist mühselig – schließlich habe ich genug anderen Stoff zu büffeln.

Gleichzeitig merke ich, wie ich mich von dem Milieu meiner Herkunft entferne. "Was nimmst du denn für Wörter in den Mund?", fragt mein Vater überrascht, weil ich in einem Gespräch "Kausalität" gesagt hatte. Selten treffe ich bei Geburtstagsfeiern noch alte Freund*innen, fast alle von ihnen machen Berufsausbildungen. Ich verurteile das nicht, aber ich merke, dass ich in einer anderen Welt lebe. Wenn ich am Dortmunder Bahnhof ankomme, zerplatzt meine Münsteraner Seifenblase. Ich bin weder richtig hier noch richtig da.

Ich werde eine gute Ärztin sein, auch wenn ich nicht die Besetzung der Oper aufsagen kann

Seit meinem ersten Semester ist nun etwas Zeit vergangen und ich habe eine entspanntere Haltung zu alledem entwickelt. Ich möchte anderen Studis aus Arbeiter*innenfamilien raten, sich nicht entmutigen zu lassen. Man sollte keine Angst davor haben, Fehler zu machen. Am Anfang kann es schwer und einschüchternd sein, aber mit der Zeit kriegt man raus, wo man sich informieren kann und welche Softskills gefragt sind.

Auf jeden Fall habe ich mich davon gelöst, jemand anderes sein zu wollen, als ich bin. Auch wenn das bedeutet, dass ich eben nicht die aktuelle Starbesetzung an der Oper aufsagen kann. Egal. Als Ärztin sind ohnehin andere Dinge wichtig. Viele meiner Patient*innen werden schließlich aus dem Arbeiter*innenmilieu kommen. Womöglich habe ich da sogar einen Vorteil.

Neulich traf ich mich mit einem Typen zum Date. Ich erzählte von meinem familiären Hintergrund, er entgegnete süffisant: "Na dann bin ich ja mal gespannt, wie das ist, mit dir in ein Kunstmuseum zu gehen." Ich entgegnete nur: "Ja, das wollen wir dann ja mal sehen."

Lena engagiert sich im Münsteraner Ortsverband von Arbeiterkind.de und berät Studienanfänger*innen, vor allem in Geldfragen und allgemeinen Unsicherheiten beim Studienstart.