Einen solchen Moment habe ich erlebt, als mir mein Bekannter Kerim vergangene Woche Bilder aus Idomeni geschickt hat. Der 29-Jährige war einer der ersten Menschen, die ich in dem Lager kennengelernt habe, als ich von dort aus für deutsche Medien berichtete.

Kerims erstes Bild zeigt ihn, seine Familie, seine Freunde. Ein Abschiedsgruppenbild aus Idomeni. Wie nach einem netten Campingausflug. Danach: Idomeni, plattgewalzt. Aus, vorbei. Er hat sie aus dem Bus heraus geschossen. Der Bus, der ihn, seine Frau und seine zwei kleinen Mädchen aus Idomeni abtransportiert. Wenig später schickt er mir seinen Standort. Sein neues Zuhause, irgendwo im nirgendwo. Er lebt jetzt wieder in einem Zelt, diesmal ohne eigene Feuerstelle. Und ohne Freunde. Seine neuen Freunde aus Idomeni, mit denen er unter dem Dach des alten Bahnhofs lebte, wurden in einem der anderen Busse weggefahren. Vermutlich sieht er sie nie wieder.

Ich schaue die Bilder an und beginne zu weinen. Er ist wieder da, einer dieser seltenen Momente, in denen ich kurz zulasse zu begreifen, was gerade tatsächlich passiert. Die Bilder sind nur ein Auslöser, ein Symbol für kollektives Scheitern. Ich bin wie gelähmt. Ich begreife, dass wir verlieren. Wir verlieren uns und unsere Menschlichkeit.

Kerim floh vor den Bomben am Himmel, die ihn und seine Familie jederzeit hätten töten können. Sie setzten sich auf ein Boot nach Griechenland, mit dem sie jederzeit hätten untergehen können. Sie schlugen sich nach Idomeni durch, an die Grenzen Europas, das sie schon längst nicht mehr wie Menschen behandelt. Ja, seine Angst durch Bomben zu sterben war vielleicht weg. Aber nun hat er Angst vor dem Leben. Einem Leben in Europa voller Stacheldraht, das ihm die Würde genommen hat. Seine Geschichte ist eine unter Millionen gleicher Geschichten.

Ich spüre und verstehe in diesen Momenten: Wir wollen diese Menschen nicht. Wir bauen neue Zäune, im 21. Jahrhundert. Das ist unsere einzige Antwort auf die flehenden Bitten von Menschen in Not, Menschen wie du und ich. Abwehr. Entwürdigung. Gewalt. Wir übergeben Millionen von Einzelschicksalen an den bankrotten Staat Griechenland und den Unrechtsstaat Türkei, statt sie in unserer Mitte aufzunehmen. Wir denken, das sei eine sinnvolle Lösung, mit der wir unser eigenes Antlitz noch im Spiegel ertragen könnten. Ich kann es nicht. Und ich kann es manchmal kaum ertragen, einzusehen, dass das aus uns geworden ist. Oder wir vielleicht schon immer so waren. Das kann man nicht schönreden. Dafür gibt es keine Ausreden.

Bevor ich Idomeni Dienstagabend verließ, hatte ich eine letzte Zigarette mit Kerim geraucht. Das hatten wir oft gemacht. Geraucht, Tee getrunken, uns gemeinsam empört. Dann sagte er immer "Scheiße Europa" und lachte dabei. Ade, mein Freund.