Das Fahrrad stehen lassen, der Bahn hinterherwinken, den Autos bloß vom Bürgersteig aus zusehen – und einfach mal zu Fuß gehen. Das machen wir nicht nur viel zu selten, sondern die Wenigsten wissen überhaupt noch, wie es geht. Ilija Trojanow gehört zu diesen Wenigen. Der in Bulgarien geborene und international bekannte Autor ist theoretischer Geh-Experte, seine Bücher handeln vom Gehen, und auch im Alltag geht er am liebsten zu Fuß. Seine langen Wanderungen haben ihn schon durch Tansania und Los Angeles, vom Indischen Ozean bis zum Tanganjikasee geführt.

"Gehen muss man lernen", davon ist der Schriftsteller überzeugt. Für ihn stellt der Spaziergang weder ein simples Mittel zur Fortbewegung noch eine Maßnahme körperlicher Ertüchtigung dar. Vielmehr ist es eine Lebens- und Weltanschauung. Ein Aufbegehren gegen die Technik und eine Revolution gegen das System, in dem wir uns tagtäglich unbewusst bewegen.

Wie geht es denn, das Gehen? Kann man da überhaupt so viel falsch machen? Die Antwort führte Trojanow, der dieses Semester an der New York University ein Seminar mit dem Titel "The Poetics and Politics of Walking" anbietet, seinen Studenten am vergangenen Dienstag vor. Auf einem Tagesausflug setzte die Gruppe, bestehend aus vier Studenten und dem Schriftsteller, das in den letzten Wochen Gelesene, Diskutierte und Durchdachte in die Tat um.

Neun Stunden, von 10 bis 19 Uhr, von der 110. Straße in Manhattan im Bogen über Harlem in die Bronx und wieder zurück nach Manhattan. Ohne Karte, ohne Google-Maps, ohne Orientierung. ze.tt hat das Experiment begleitet. Und festgestellt: Gehen ist eine schwierige und ernstzunehmende Angelegenheit, sowie eine außergewöhnliche Erfahrung. Solange man es richtig macht.

Drei Regeln

Drei Regeln erklärt Trojanow seiner Truppe gleich zu Beginn des Ausflugs:

  1. Kein Ziel
  2. Keine Fotos
  3. Keine Gespräche

Was wir uns gestern noch als ein entspanntes Flanieren abseits des Großstadtlärms, mit netten Plaudereien und hübschen Selfies vorgestellt hatten, entpuppt sich prompt als konzentrierte Übung und disziplinierte Schulung.

Wie ist das, wenn es keine Hütte gibt, die man noch vor Sonnenuntergang erreichen muss, kein Gipfelbuch, in das man zum Höhepunkt des Tages seinen Namen zu kritzeln plant, und kein Denkmalselfie, das der Reise dann am Ende doch noch eine sinnvolle Form zu verleihen verspricht?

Oder: Was sieht man, wenn man nichts sucht? Schnell wird uns klar: Erschreckend wenig, so ganz ohne Übung. Und so zieht Trojanow schon nach wenigen Minuten den ersten Studenten streng beiseite. "Was hast du in der letzten Straße gesehen?" Jedes Detail ist wichtig. Denn: Richtig sehen, das heißt, den Kopf stets in Bewegung zu halten, nicht nur gerade aus zu blicken, sondern nach unten und oben. Sich alles ganz genau einzuprägen und im Notfall für Dinge, die man nicht kennt, einen neuen Namen zu erfinden. Aus diesem Grund ist für den Schriftsteller auch das Fotografieren tabu.

Was sieht man, wenn man nichts sucht?

Ein Foto erfordert keine Fantasie, man muss keinen Begriff für das Unbekannte erfinden, weil die Kamera Dinge festhält, auch ohne die passenden Worte dafür zu kennen. Zack, ein Klick genügt. "Das Foto fängt nur den Moment ein", erklärt Trojanow. "Es schließt das Davor und das Danach aus." Die Stimmung, den Eindruck, die Gedanken. Wir nicken, aber es fällt uns schwer, nicht zu reden, immer wieder, ganz automatisch, passen wir unsere Schritte aneinander an, bis irgendwann jemand anfängt, eine Frage zu stellen.

"Stop! Das hier wird mir zu gemütlich!", schaltet sich der Autor das ein oder andere Mal ein. Oder, wenn wir zu schnell sind, nicht mehr schauen, sondern nur noch ankommen wollen, ohne zu wissen, wo: "Wann fangt ihr endlich an, eure Augen zu benutzen?" Richtig sehen, das heißt nicht nur, alles zu sehen, sondern insbesondere auch, die Unterschiede im immer Gleichen zu sehen. "Zum Beispiel sehen Touristen in indischen Slums nur die Armut. Erst der geschulte Blick erkennt die feinen Unterschiede zwischen der Armut heute und der Armut morgen. Wenn beispielsweise einer der Slumbewohner über Nacht ein neues Stockwerk fertig gebaut hat."

Wer auf Gespräche verzichtet, sieht mehr

Je weniger automatisch geredet wird, je weniger wir angestrengt nach geeigneten Fotomotiven Ausschau halten, desto bewusster wird uns die Musik, die aus vorbeifahrenden Autos, vorbeiziehenden Kirchen und Geschäften ertönt. Reggaeton, Salsa, aber auch Gospel und Oper, Akzente von Latinos und Afrikanern. "Wer in keinen Konflikt mit einem Auto gekommen ist, ist nicht richtig gegangen", warnt Trojanow scherzhaft. Um dann aber doch mit Ernst zu ergänzen: "Es ist schwierig, sich heute noch als Fußgänger durchzusetzen. Ich erlebe das oft, dass man als Fußgänger niemand ist. Man passt einfach nicht ins System."

Zwischendurch testet Trojanow immer wieder unsere Aufmerksamkeit, lässt die Stimmung nie zu entspannt werden. Wann wurde diese Bahnstrecke gebaut? Jeder wirft eine Vermutung in die Runde. Oder: Wer war dieser Herr Koch, dem das Gebäude dort gehört hat? Lebensmittelhersteller, Anwalt oder Postmann, gehen die Schätzungen auseinander. Wer ist das auf dieser Statue? Und vor allem: Wo sind wir?

Während der ganzen Zeit, seit heute morgen, haben wir alle ein Smartphone in der Tasche. Jeder weiß das und doch holt es keiner raus. Ohne, dass man uns explizit verboten hätte, Handys zu benutzen kommt der Gedanke, unsere Antworten zu überprüfen, nicht auf. Obwohl es für einen Moment brennt, zu erfahren, wer Recht hat, ob Herr Koch Postmann oder Anwalt war, und ob die Bahnstrecke 1943 oder 1976 gebaut wurde, schreit keiner, "Moment, ich schaue es nach. AHA! William war am nächsten dran." Tatsachen werden unwichtig, was zählt, ist die beste Geschichte, das Erlebnis, die Interpretation.

In der Orientierungslosigkeit steckt die Freiheit

Irgendwann spüren wir unsere Füße nicht mehr. Keiner weiß, wo wir sind. Es ist auch egal. Zweimal sind wir schon im Kreis gelaufen, irgendwo tief in den Bronx, die Sonne geht im Westen unter. Meistens sieht man nicht, wo die Sonne ist, vor lauter Häusern und Schildern und Abendlicht, in das die Luft in allen Richtungen getaucht ist. "Wenn ihr müde werdet, geht einfach schneller, dann spürt ihr es nicht mehr", rät Trojanow mit ungebrochenem Enthusiasmus.

Es wird ruhiger auf den Straßen. In den Bronx gibt es wohl noch so ein Konzept wie Schlaf, das hatten wir aus Manhattan schon ganz vergessen. So fühlt es sich also an, nicht zu wissen, wo man ist, überhaupt keine Kontrolle darüber zu haben, in welche Richtung man sich bewegt. Für ihn sei das immer ein Gefühl der Freiheit, sagt Trojanow. Wir wissen, nur ein Blick aufs Handy und wir hätten unseren Standort, aber keiner schaut nach. Den ganzen Tag über nicht. "Wie kommen wir nach Manhattan?", fragen wir irgendwann ein paar Leute auf der Straße. Die lachen, zeigen uns erst eine Bahnhaltestelle, dann, auf weitere Versicherungen, dass wir gehen wollen, ja, mit unseren Füßen, genau, zu Fuß, eine Himmelsrichtung.