Selbst der überzeugteste Single kennt zumindest eines dieser Paare, die man ansieht und denkt "Okay, so könnte ich mir das vielleicht vorstellen". Zwei von dieser Sorte durfte ich kennenlernen. Eines unterscheidet sie jedoch von vielen anderen Paaren: Sie führen offene Beziehungen, in denen sexuelle Kontakte zu Dritten ausdrücklich erlaubt sind.

Kathleen und Alexander sind seit sieben Jahren zusammen und seit vier verheiratet. Sie haben sich erst vor Kurzem den Traum vom eigenen Haus erfüllt und leben nun mit ihren beiden Kindern in einem grünen Berliner Vorort.

Kinder wollen Saskia und Karsten auch. Mit dem Eigenheim sind sie noch nicht so sicher. Den ein oder anderen Umzug haben sie aber schon zusammen gestemmt – die beiden haben sich als angehende Abiturienten kennengelernt und sind inzwischen seit mehr als 16 Jahren ein Paar.

″Ich hatte vorher erst mit einem Menschen geküsst und geschlafen, und dann war da ein zweiter – gleichzeitig!″ – Saskia

Für Saskia und Karsten war es die erste richtige Beziehung und zugleich die große Liebe. Beide waren sich schnell darüber im Klaren, dass sie gut zusammenpassen und dass sie sich vorstellen könnten, den Rest ihres Lebens miteinander zu verbringen. Andererseits waren sie sich aber auch bewusst, dass sie noch keine anderweitigen Erfahrungen gesammelt hatten. Gemeinsam beschlossen sie, dass es ihre Beziehung nur stabilisieren könnte, wenn es ihnen miteinander nicht langweilig wird. Am Anfang stand ein Dreier mit einem gemeinsamen Freund.

Lange hatten Karsten und Saskia halb scherz-, halb ernsthaft darüber gesprochen und fantasiert, ehe Karsten das Ganze schließlich ins Rollen brachte – als besondere Geburtstagsüberraschung für Saskia.″Wir mussten da schon erstmal lernen, mit umzugehen″, erinnert die sich. ″Ich hatte ja vorher erst mit einem Menschen geküsst und geschlafen, und dann war da ein zweiter – gleichzeitig!″ Doch das Geburtstags-Experiment gefiel. Es wurde zum Startschuss in die offene Beziehung.

So einfach und direkt ist es natürlich nicht immer. Für Kathleen etwa war das Konzept der offenen Beziehung schon recht früh interessant, lange bevor sie Alexander kennenlernte. In die Tat umsetzen konnte sie ihre Ideen in früheren Beziehungen aber nicht. ″Es gehören immer zwei dazu, die sich vielleicht auch unabhängig voneinander schon mal mit dieser Möglichkeit beschäftigt haben″, denkt Kathleen heute. ″Wenn man jemanden komplett überrascht mit der Thematik, stößt man oft erstmal auf Ablehnung. Mit Alex hat es dann einfach gepasst.″

Dazu trug auch die Freundschaft zu Saskia und Karsten bei, die während des gemeinsamen Studiums in Berlin entstand. Ein Paar zu sehen, das schon so lange zusammen war und bei dem das Konzept aufging, war für Alexander und Kathleen der nötige Impuls, um aus Gedankenspielen Realität zu machen. Sie beschlossen, ihre damals noch frische Beziehung zu öffnen.

″Liebe wird nicht weniger, wenn man sie teilt″

Aber muss das wirklich sein? Genügen ihre Partner*innen ihnen denn nicht? Gelegentlich werden beide Paare mit dieser Frage konfrontiert. Ihnen selbst hat sie sich aber nie gestellt. "Es kann dir nichts fehlen, und trotzdem kannst du einem anderen Menschen begegnen und feststellen: Mit dem ist es auch fantastisch – auf eine andere Art und Weise″, erklärt Alexander. ″Du holst dir nichts, was dir in deiner Beziehung fehlt. Du hast zusätzliche schöne Momente.″

Liebe wird nicht weniger, wenn man sie teilt, so könnte die Maxime beider Paare lauten. Was wiederum nicht heißen soll, dass es ihnen um möglichst ausschweifende sexuelle Eskapaden ginge. Auch nach 16 Jahren offener Beziehung können Saskia und Karsten ihre Sexualpartner*innen noch an zwei Händen abzählen. Sex ohne irgendwelche Gefühle hat es bei ihnen nie gegeben. Auch Kathleen und Alexander würden mit niemandem ins Bett gehen, mit dem sie nicht auch vor- oder nachher einen Kaffee trinken würden. Nicht selten kommt es vor, dass Affären zu Freunden werden, oder es vorher schon waren.

"Das klassische Modell von Beziehung ist natürlich bequemer, weil man sich an Rollenbildern orientieren kann." – Kathleen

Natürlich kann das auch zu Verwicklungen führen. Diese Erfahrung machte Saskia, als sie sich vor einigen Jahren in eine ihrer Affären verliebte. Für jemanden, der bis dahin nur einmal im Leben verliebt gewesen war, war es ein komisches Gefühl, plötzlich noch in einen zweiten Menschen verliebt zu sein. ″Ich musste mich erstmal durch diese Gefühle durchwurschteln und rausfinden, was das bedeutet, für mich und für die Beziehung″, erinnert sich Saskia. Dass die neue Verliebtheit an ihren Gefühlen für Karsten nichts ändert, stand für sie aber von Anfang an fest.

″Ich hab' mich dann monatelang mit der Vorstellung rumgeschlagen, ob ich vielleicht eine offizielle Dreier-Beziehung haben könnte.″ Von dieser Idee waren allerdings beide Männer wenig begeistert, wie Saskia augenzwinkernd hinzufügt. Trotzdem fiel es dem Dreiergespann dann nicht schwer, sich mit der unerwarteten Situation zu arrangieren. Saskias Schwarm ist inzwischen ein guter Freund des Paares – und gleichzeitig eine regelmäßige Affäre geblieben.

"Das klassische Modell von Beziehung – Mann, Frau, monogam – ist natürlich bequemer, weil man sich an Rollenbildern orientieren kann und weiß, wie’s gemacht wird″, meint Kathleen. ″In dem Moment, wo es mehr Variablen gibt, muss wahnsinnig viel kommuniziert werden. Es ist ein viel größeres Risiko da, verletzt zu werden, aber auch zu verletzen.″

Gleichzeitig bedeutet eine offene Beziehung natürlich auch mehr Möglichkeiten und Freiräume für die Beteiligten. ″Viele Leute fühlen sich sehr schuldig für Gelüste und Gedanken, die sie haben″, meint Alexander. ″Und wenn sie dann mal einen sogenannten Fehltritt haben, dann kann das direkt Leben und Familie zerstören.″ Kathleen und er haben diese Probleme nicht. Wo Affären zur Beziehung gehören, werden sie nicht zum Streitpunkt.

Zusammen leben bedeutet mehr als zusammen schlafen

Ein fortschrittlicher Gedanke. Gleichzeitig haben Alexander und Kathleen sich aber auch für die konservative Institution der Ehe entschieden. Einen Widerspruch sehen sie darin nicht. Das Eheversprechen bedeutet für sie ein Stück Romantik, das die Besonderheit ihrer Paarbeziehung unterstreicht – es ist ein bewusstes Ja zu einem Partner, für den sie da sein möchten, mit dem zusammen sie leben und alt werden wollen. Dazu, finden beide, gehört viel mehr als Sex.

Aber wie sieht das aus, wenn man die wilde Jugend langsam hinter sich lässt und eine Familie gründet? Kathleen und Alexander sind sich sicher, dass ihre offene Beziehung auch mit Kindern funktionieren kann. "Unsere Eltern hatten ja früher sicher auch Sex″, meint Kathleen, ″das war auch kein großes Thema″.

Auch bei Saskia und Karsten sind Kinder fest eingeplant. Sorge, dem Nachwuchs ihr Beziehungsmodell nicht erklären zu können, haben sie nicht. ″Ich kann mehrere Eltern lieben und mehrere Geschwister; ich habe viele Freunde, die ich sehr gerne habe″, sagt Saskia. "Warum das dann auf einer romantischen Ebene nicht gehen soll, kann ich nicht nachvollziehen.″

″Ich möchte unseren Kindern gern weitergeben, dass wir Glück haben″, sagt Kathleen. ″Das Glück, viele tolle Menschen in unserem Leben zu haben, mit denen wir vertraut sind. Und ich hoffe, dass sie in dem Moment, wo sie verstehen, dass das auch mal mehr bedeuten kann als nur zu kuscheln, sie auch die geistige Reife haben, das zu akzeptieren. Den Fragen, die dann kommen, müssen wir uns einfach stellen".

Das einzige, was Alexander gelegentlich besorgt stimmt, sind die Reaktionen Dritter. Es ist die Sorge, seine Kinder könnten den Eindruck haben, ihre Eltern täten etwas Peinliches oder gar Anstößiges. Denn genau so werden offene Beziehungen nach wie vor oft eingeordnet. Mehr als einmal hat Alexander von Bekannten und Freunden zu hören bekommen, sie könnten mit Liebe und Sexualität nie so umgehen wie er. Anderen offene Beziehungen aufzuschwatzen, liegt ihm fern – die Voreingenommenheit aber findet er schade.

″Was ich wichtig finde ist, dass man erstmal guckt, fühlt sich das gut an für mich?″, sagt Alexander. ″Wenn nicht, dann lass' ich's. Aber wenn doch, dann ist es vielleicht wirklich gut. Sich sowas von vornherein zu verbauen, ohne einfach mal die Möglichkeit im Kopf abgeklopft zu haben – damit nimmt man sich ganz viele Möglichkeiten".