Die Beziehung zwischen Kind und Eltern ist die engste unseres Lebens. Warum bricht sie manchmal und wie gehen Betroffene damit um? In einer sechsteiligen Serie gehen wir dieser Frage nach. Unter dem Kontaktabbruch leiden beide Seiten. Wir konzentrieren uns in der Serie allerdings auf die Sicht der Kinder.

Wie Eltern damit umgehen, wenn ihre Kinder den Kontakt zu ihnen abbrechen, lest ihr in diesem Artikel aus dem ze.tt-Archiv.

Nadine*, 20, Ruhrgebiet

Ich war elf Jahre alt, als sich meine Eltern getrennt haben. Sie haben mir und meiner 22-jährigen Schwester aber nichts davon gesagt. Mein Vater kam plötzlich nicht mehr nach Hause.

Sie sagten, sie wollten uns nicht davon erzählen, um uns zu schützen. Im Endeffekt habe ich es dann von meiner Schwester erfahren.

Ich war immer das Papakind und habe ihn sehr gemocht. Also war ich total sauer, als er weg war. Kontakt hatten wir dennoch und irgendwann war ich auch nicht mehr wütend auf ihn. Wir telefonierten selten und sahen uns vielleicht zweimal im Jahr. Er zog häufig um und wohnte zwar nicht so weit weg, aber auch nicht so nah, dass man ihn gut erreichen konnte. Und es war schon immer so, dass er sagte "Ruf doch mal an, ich hab so viel Stress und vergess' es sonst."

In der elften Klasse wollte ich meinen Führerschein machen und fragte ihn, ob er mir den finanzieren würde. Er sagte Ja. Weil er Probleme mit dem Finanzamt hatte, konnte er das Geld nicht überweisen und ich hab immer wieder kleinere Beträge bei ihm abgeholt. Irgendwann staute sich eine größere Summe an und ich brauchte dringend Geld von ihm. Ich rief an und er sagte, ich solle zu ihm kommen – gemeinsam mit meiner Mutter. Da wusste ich schon, dass irgendetwas nicht stimmt, denn die beiden haben seit der Trennung gar keinen Kontakt mehr und können sich nicht mehr ausstehen.

Als wir bei ihm ankamen, wollte ich nur kurz rein und das Geld holen. Er sagte zu mir: "Hol deine Mutter." Ich ging raus und holte sie. Im Esszimmer sagte er zu uns, dass wir uns hinsetzen sollten. Dann fing er an zu sprechen. Was er genau gesagt hat, weiß ich nicht mehr. Er war unglaublich wütend. An einige Satzfetzen kann ich mich erinnern. Er sagte, ich sei eine Lügnerin und faule Sau, ich solle endlich mal arbeiten gehen, dann könnte ich den Führerschein auch selbst bezahlen. Ich würde sowieso nur als Hartz-IV-Empfängerin enden.

Er meinte, ich würde nie etwas erreichen und auf der Straße landen.
Nadine

Ich konnte kein Wort sagen. Ich war einfach nur geschockt und saß ihm mit Tränen in den Augen gegenüber. Dann standen wir auf. 

Er wollte noch eine Umarmung, doch ich verwehrte sie ihm. Er gab mir das Geld und fragte, ob ich ihn morgen anrufen würde. Ich sagte: "Ja, mach ich" und wusste in diesem Moment, dass ich nie wieder anrufen würde.

Er war vorher nie so zu mir. 

Meine Theorie ist, dass seine Freundin ihm alles eingetrichtert hat. Meine Mutter sagt, dass er auf Drogen war, das hätte sie an seinen Augen gesehen.

Ich war sauer und so enttäuscht von ihm. Meine Schwester hatte weiterhin Kontakt zu ihm und erzählte von ihm. Auch, dass er nach mir fragte. Es hat sich so blöd angefühlt, erzählt zu bekommen, was er macht. Ich war eifersüchtig auf sie. Doch ich wartete auf eine Entschuldigung von ihm. So vergingen Tage und Wochen. Aus Wochen wurden Monate und ich war mir sicher, dass ich mich nie mehr bei ihm melden würde, auch wenn er mir fehlte. Aber mein Vater und ich sind beide sehr stur.

Ich glaube, ich hätte mich nicht bei ihm gemeldet, wenn nicht anderthalb Jahre später die Sache mit meiner Katze gewesen wäre. Meine Mutter war mit ihrem neuen Freund im Urlaub in Spanien, meine Schwester wohnte mittlerweile nicht mehr zu Hause. Und plötzlich starb meine Katze. Ich wusste einfach nicht, was ich tun sollte. Trotz des Vorfalls hatte ich noch Vertrauen in meinen Vater, ich wusste, dass er mir helfen würde. Also rief ich ihn an und er war tatsächlich eine Viertelstunde später bei mir. Er brachte die Katze zum Tierarzt und ich ging in die Schule.

Seitdem haben wir wieder Kontakt. Wir haben uns lange nicht gesehen, aber er hat mir bei meinem Umzug geholfen und im Baumarkt die Sachen für meine neue Wohnung für mich gezahlt. Wir telefonieren hin und wieder. Wir sprechen über mein Studium, meinen Freund oder die Wohnung. Er erzählt von seinem Job und seiner Wohnung. Über den Vorfall von damals haben wir nicht gesprochen. Ich warte noch immer auf eine Entschuldigung – und ich glaube, er auch auf eine von mir, dass ich mich so lange nicht gemeldet habe. Aber im Moment bin ich einfach froh, dass wir wieder Kontakt haben.

* Name geändert

Dies ist der letzte Teil unserer Serie "Ohne meine Eltern". In Teil 1 bis 3 kamen Betroffene zu Wort: Kinder, die Opfer von Gewalt geworden sind (Teil 1), die von ihren Eltern im Stich gelassen wurden (Teil 2) oder emotional erpresst werden (Teil 3). In Teil 4 äußerten sich Expert*innen zum Thema Kontaktabbruch. Die Serie endet mit einem Protokoll über eine 20-Jährige, die nach einer Zeit der Funkstille wieder Kontakt zu ihrem Vater hat. 

Wie es zu der Serie kam

Im Dezember hatte unsere freie Autorin Carina Fron einen Artikel darüber geschrieben, wie es sich für Eltern anfühlt, wenn ihre Kinder keinen Kontakt mehr zu ihnen haben wollen. Wir waren überrascht von der intensiven Diskussion unter dem Artikel. In den Kommentaren erzählten viele Leser*innen, warum sie den Kontakt zu ihren Eltern abgebrochen hatten und wie sie damit umgehen. Über Twitter startete ich einen Aufruf (inklusive Rechtschreibfehler)

Ich hatte mit maximal fünf Rückmeldungen gerechnet. Stattdessen ist es bis heute mein meistgeteilter Tweet. Knapp 40 Menschen schrieben mir und erzählten mir ihre Geschichte. Es waren hauptsächlich Frauen, obwohl ich nicht glaube, dass mehr Frauen den Kontakt zu ihren Eltern abbrechen, aber vielleicht sprechen sie eher darüber. Ursprünglich war nur ein Artikel geplant, aber das Thema hat so viel Facetten, dass wir entschieden, daraus eine Serie zu machen, die ich gemeinsam mit meiner Kollegin Josefine Schummeck umgesetzt habe.Viele 

Kontaktabbrecher*innen leiden darunter, dass der Abbruch in der Öffentlichkeit noch immer ein Tabuthema ist. Niemand, der*die uns geschrieben hat, wollte mit ihrem*seinem wahren Namen genannt werden. Der systemische Therapeut Jochen Rögelein, den ich für den dritten Teil dieser Serie interviewt habe, sagt: "Es ist ein erhebliches gesellschaftliches Tabu, wenn Kindern sich von ihren Eltern trennen. Viele bekommen gesagt: 'Man hat doch Vater und Mutter zu ehren.'"

Zu lesen, dass sie nicht alleine sind, scheint vielen unserer fast 400.000 Leser*innen dieser Serie zu helfen. Das geht aus dem Kommentaren und E-Mails hervor, die wir erhalten haben.