Es fühlte sich wie eine Traumsequenz an. Stefan* hatte an dem Tag kränklich im Bett gelegen, als das Landeskriminalamt an seiner Tür klopfte. Anderthalb Stunden lang durchstöberten die Beamt*innen seine Wohnung, klärten ihn zum Fortgang der Untersuchung auf und nahmen schließlich den Computer mit. Ruhig und professionell verlief das alles. Für Stefan stürzte die Welt zusammen.

"Ich wusste, dass mein Leben nie wieder so sein würde wie vorher. Und dass ich meine Pädophilie nicht weiter verdrängen konnte." Einen kurzen Moment lang schoss es Stefan durch den Kopf, aus dem Fenster zu springen. Er fasste sich und besucht stattdessen seinen Freund. "Für meinen damaligen Partner war das ein Schlag ins Gesicht. Aber ich musste es ihm sofort sagen."

Das war 2013. Mittlerweile ist Stefan Anfang 50 und macht eine Therapie am Berliner Standort des Netzwerks Kein Täter werden. Seinen Konsum von Missbrauchsabbildungen hat er mit einer Geldstrafe abgegolten. Sogar zu einem Gefängnis ist er mal mit seinem Freund geradelt, einfach nur um zu schauen, wie eine alternative Realität aussehen könnte.

Für meinen damaligen Partner war das ein Schlag ins Gesicht. Aber ich musste es ihm sofort sagen."

Stefan gehört zu den knapp 4,4 Prozent der Männer in Deutschland, die sich laut Mikado, einem Forschungsprojekt der Regensburger Universität, sexuell zu Kindern hingezogen fühlen. Ein frühpubertäres Körperschema spricht ihn an. Was Pädophilie im Fachjargon bedeutet, weiß er selbst nicht so genau. Nach einer kurzen Recherche findet er heraus: Pädophilie wird dann zur Sexualstörung, wenn Betroffene darunter leiden oder anderen Menschen dadurch Schaden zugefügt wird. Wenn sie sowohl schmerzvoll unterdrückt, als auch an anderen Personen ausgelebt wird.

Die Verdrängung der eigenen Identität

Bis zu diesem Punkt war Stefans Leben beschaulich gewesen. Als jüngstes Kind mit mehreren Geschwistern ist er in einer Großstadt aufgewachsen; man habe ihm stets das Gefühl gegeben, akzeptiert zu werden. Im Jugendalter hat er schließlich erste Liebeleien mit anderen Jungs. "Für mich war das vollkommen okay, schwul zu sein. Dann ist das halt so. Ich habe nicht wirklich dazu geneigt, mich infrage zu stellen." Und trotzdem: Einen Unterschied zu seinen Gleichaltrigen stellt Stefan schnell fest. Wenn er durch FKK-Bildbände blättert, bleiben seine Augen auf den Bildern der Kinder haften. Fantasien entstehen. Stefan versucht sich nicht allzu viele Gedanken zu machen. "Ich war schon verwirrt. Dennoch fiel es mir nicht schwer, diese Gefühle beiseite zu schieben. Erwachsene fand ich schließlich auch attraktiv."

In seinen Dreißigern stößt Stefan auf einen Schwulen-Chat, bei dem die Teilnehmer sich gegenseitig Inhalte empfehlen. Ein paar Mausklicks später findet er sich inmitten einer Plattform mit Missbrauchsabbildungen von Kindern wieder. "Wir haben über einen Webdienst Kontakte ausgetauscht und später auch Bildmaterial. Ich bin da ziemlich schnell reingerutscht." Zuvor habe Stefan lediglich Schwulenpornografie konsumiert.

Den schleichenden Übergang in härteres Material und das stetige Absinken seiner Hemmschwelle stellte er nicht infrage. Zu einfach sei es, sich vom Strudel des Sexmaterials mitziehen zu lassen. Stefan entwickelt eine Sammelwut, die er nicht mehr in den Griff bekommt. "Was hinter Kinderpornografie steht und den Kindern angetan wird, versuchte ich zu verdrängen. Es ging nur ums Haben und Sammeln des Bildmaterials. Ich habe mich damit zugemüllt", sagt er und senkt seinen Blick. Seine Augen sind geweitet.

Wer im Internet nach kinderpornografischen Inhalten sucht, wird schnell fündig. Selbst auf harmlosen Rubriken und Tags werden Bilder und Verlinkungen von Missbrauchsabbildungen geteilt, die einige Stunden lang existieren. Stefan baut ein Parallel-Dasein zu seinem pädophilen Selbst auf. Wenn er mit seinem Umfeld interagiert, ist er einfach nur Stefan. Zu Hause jedoch gibt er dem Teil seiner Sexualität nach, der sich frühpubertären Körpern hingezogen fühlt. An einigen Tagen wird diese Blase kurz durchstochen; etwa dann, wenn er kurz vor seinem Bildschirm aufwacht und sich fragt: Scheiße Stefan, was guckst du dir da an?

Scheiße Stefan, was guckst du dir da an?"

Am Tag der Hausdurchsuchung bricht dieses wackelige Gerüst endgültig auseinander. Das gesamte Missbrauchsmaterial nimmt die Polizei allerdings nicht mit. Fotos, Bildbände und eine Festplatte liegen noch in Stefans Wohnung. Stefan weiß, dass alles raus muss, wenn er sein Leben umkrempeln will. Er befindet sich noch im Schockzustand, als die Realität mit voller Wucht einschlägt.

Wie zerstört man eine Festplatte?

Dabei steht er vor banalen Hindernissen. Der Angestellte erzählt: "Ich habe mich als erstes gefragt, wie man eine Festplatte zerstört. Eine Löschung kann man schließlich schnell wiederherstellen." Das Vernichten seiner Sammlung nimmt er selbst in die Hand. Mit seinem Freund hat er den Deal, alles zu entsorgen, bis dieser wieder da ist. Der Prozess dauert einige Zeit, seine Hände schmerzen, als er die Festplatte mit Wut zerschlägt. Irgendwo zerschlägt er auch einen Teil seines Selbst. Es tut weh.

Als Stefan den Schredder einsetzt, bleibt das Papier stecken. Fast so, als wolle man es ihm besonders schwer und mühsam machen. Trotzdem greift er radikal durch. "Diese Hausdurchsuchung hat mein Leben auf dem Kopf gestellt. Ich habe diesen Teil in mir, den ich stets verdrängt hatte, erstmals von außen betrachtet. Und mich fremd gefühlt."

"Selbstverständlich ist es für mich noch nie infrage gekommen, ein Kind anzufassen. Das ist ein No-Go", sagt er mit fester Stimme. "Ich hatte trotzdem keine Ahnung, wie es mit mir weitergehen sollte, und große Angst, einfach so aus der Gesellschaft rauszupurzeln." Übers Internet finden sein Partner und er Kind im Zentrum (KiZ), eine Einrichtung mit Hilfsangeboten für sexuell missbrauchte Kinder, Jugendliche und deren Familienangehörige, aber auch für Erwachsene, die sexuell missbraucht haben und sich mit ihren Taten auseinandersetzen wollen. Dort absolviert er seine erste Gruppentherapie. "Bei KiZ waren vor allem ehemalige Täter in Therapie. Die Bandbreite der unterschiedlichen Motive war enorm, manchmal fühlte ich mich wie die einzige Person, die sich nur mit ihrer Pädophilie auseinandersetzen wollte."

40 Prozent aller Kindesmissbrauchsfälle sind auf Pädophilie zurückzuführen

Dem Institut für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin am Universitätsklinikum Charité zufolge werden 40 Prozent der Kindesmissbrauchstaten von pädophilen Personen begangen. Über die Hälfte der Fälle sind auf Täter zurückzuführen, die Persönlichkeitsstörungen oder andere Hintergründe haben.

"In unserer Gesellschaft werden Pädophile immer noch mit Sexualstraftätern gleichgesetzt", erzählt Hannes Gieseler, Sexualmediziner am Institut für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin der Berliner Charité. "Dies entspricht nicht der Realität. Einige Pädophile haben sich nichts zu Schulden kommen lassen und sind hochmotiviert, sich selbst zu ändern." Mit ändern meint er nicht die sexuelle Ansprechbarkeit für den kindlichen Körper, denn diese lässt sich ebenso wenig auflösen wie die sexuelle Orientierung.

In unserer Gesellschaft werden Pädophile immer noch mit Sexualstraftätern gleichgesetzt."

Was zähle, sei der Umgang mit der Neigung und die Kontrolle über die eigenen Handlungen. Dafür trage jede Person die Verantwortung. "Die intrinsische Motivation der Teilnehmer ist ein unabdingbarer erster Schritt. Die anschließende Therapie ist darauf ausgerichtet, Risikofaktoren für problematisches sexuelles Verhalten zu reduzieren." Das würden die Gruppenteilnehmer zum Beispiel durch Akzeptanz der sexuellen Präferenz erreichen.

Der Weg dahin ist steinig. Im stetigen Kampf gegen die eigene Sexualität wächst der Leidensdruck, man versucht sich von kinderpornografischem Bild- und Videomaterial oder dem Realkontakt zu Kindern fernzuhalten. Ein Teilnehmer bei KiZ, erinnert sich Stefan, hatte einen Knetball, um den er seine Faust ballte.

Ob er selbst mit Kinderpornografie jemals rückfällig geworden sei? "Nein. Ich neige zum Glück nicht dazu, Stresssituationen umzuleiten oder meinen Konsum als Fluchtmittel zu nutzen. Und für mich war klar, dass ich alles hinter mir lassen muss." Stefan macht eine nachdenkliche Pause. "Ich fühle mich von Erwachsenen ja ebenfalls sexuell angezogen. Für Personen, die ausschließlich pädophil orientiert sind, muss es um einiges härter sein."

"Warum ich?"

Auch Sexualmediziner Gieseler berichtet von verzweifelten Menschen, die in der Therapie Trauerarbeit in Anspruch nehmen. Das sind dann nicht die Monster, die sich die Gesellschaft vorstellt, sondern einfache Männer, die von Kummer zerfressen werden. Kummer, weil sie ihr eigenes Wesen nicht verstehen. Und Einsamkeit, weil sie sich vielleicht von der Vorstellung einer erfüllten Beziehung verabschieden müssen und sich fragen: warum ich?

Noch immer werden Pädophile geächtet, der Begriff gleicht einem Schimpfwort. Bei einer Fußgängerbefragung der TU Dresden im Jahre 2015 hielten es 40 Prozent der Befragten für notwendig, auch dann pädophile Menschen einzusperren, wenn sie keine Straftaten begangen haben. Fantasien seien Grund genug zur Freiheitsstrafe. Über zehn Prozent wünschten ihnen gar den Tod.

Entsprechend fällt es Menschen wie Stefan schwer, sich ihrem Umfeld gegenüber zu öffnen. Bis auf seinen Exfreund und seinen besten Kumpel weiß niemand Bescheid. "Das ist nicht so einfach", sagt er. "Man kann den Menschen doch keinen solchen Brocken hinwerfen und verlangen, dass sie den einfach runterschlucken. Die wollen dann auch mit jemandem reden." Dieses Risiko kann Stefan aber nicht eingehen. Es ist eine Problematik, der viele pädophile Menschen begegnen. Der Berliner Standort des Netzwerks Kein Täter werden bietet deshalb auch Therapiegruppen für die Angehörigen der dort behandelten Betroffenen an.

Zum Wohle aller

Vor knapp zwei Jahren fand auch Stefan zur Charité. Die Hausdurchsuchung, sinniert er, sei im Endeffekt ein Geschenk gewesen. "Ich bin so froh darüber, dass ich entdeckt wurde. Sonst wäre ich noch genau dort, wo ich damals war." Stefan sieht bei der Vorstellung nicht glücklich aus. Gieseler und er wünschen sich einen Wandel in der gesellschaftlichen Wahrnehmung von Pädophilie.

"Pädophil geneigte Menschen dürfen nicht mit Kinderschändern gleichgesetzt werden", sagt Gieseler. Die sexuelle Präferenz sei nicht synonym zum Sexualverhalten. Wenn der Hass einer helfenden und professionellen Hand weichen würde, könnten sich mehr Pädophile zu erkennen geben und Hilfe annehmen. So wie Stefan. Denn das wäre der beste Weg zum Wohle aller.

*für den Schutz des Protagonisten wurde dessen Name für diese Geschichte anonymisiert

So lernen Pädophile, mit ihrer Neigung umzugehen

Zusatzinformation:

Wie aufmerksame Leser*innen sicherlich bemerkt haben, ist in dem Artikel von maskulinen Pädophilen die Rede. Selbstverständlich soll nicht darüber hinweggelenkt werden, dass Pädophilie ebenso bei Frauen auftritt. Im Gespräch mit der Berliner Charité standen jedoch die dort behandelten Betroffenen im Zentrum, welche ausschließlich männlichen Geschlechts waren. Auch die im Beitrag genannte Zahl zum Täterhintergrund bezieht sich auf jene Übergriffe, die von männlichen Straftätern begangen wurden. Dass es sich nicht um Teilnehmer*innen im Schwulen-Chat handelt, erklärt sich hoffentlich von selbst. Das fehlende Gendersternchen ist somit nicht Folge einer möglichen Geschlechterdiskriminierung, sondern der Genauigkeit des im Artikel dargestellten Sachverhaltes geschuldet, welcher ausschließlich Stellung zu pädophil geneigten Männern bezieht. Die Autorin bittet um Verständnis.
Hilfe holen

Das Präventionsnetzwerk "Kein Täter werden" bietet deutschlandweit ein kostenloses und durch die Schweigepflicht geschütztes Behandlungs- und Vermittlungsangebot für Menschen, die sich sexuell zu Kindern hingezogen fühlen und deshalb therapeutische Hilfe im Umgang mit ihrer sexuellen Präferenz suchen. Nähere Infos gibt es hier.

Auch für Jugendliche unter 18 gibt es Hilfsangebote, zum Beispiel hier: www.du-traeumst-von-ihnen.de.