Sechs Jahre ging mir dieser Wunsch durch den Kopf. Sechs Jahre Aufschieben, Ausreden suchen, dass man es ja irgendwann mal machen wolle, noch irgendwann genügend Zeit dafür habe. Sechs Jahre nicht der richtige Moment und keine Zeit für so was. Sechsmal Jahresurlaub in Botswana, Japan und Mexiko. Im Busch, in der Wüste und in den Bergen. Natürlich nur mit Locals, alles andere als touristisch. Nur Hidden Spots, versteht sich.

Jeder Trip sollte noch krasser sein als der vorherige. Gefühlt sollte sich jeder schon vom Namen her so anhören, als würde da niemand anderes jemals hinkommen. Jede Reise sollte schon im ersten Satz das Umfeld beeindrucken. Ohne die Facebook-Alben im Nachhinein schon die Freund*innen im Vorfeld vor Neid erblassen lassen. Und so betitelt, als wären diese Erfahrungen das Normalste der Welt. Den anderen Wellenreiter*innen, Weltreisenden und Westküstler*innen mit den Bildern ein bisschen Parole bieten. Könnte man meinen.

Dieses Mal nur Europa. Langweilig

Jetzt war es also soweit. Der offensichtlich langweiligste Trip meines Lebens stand mir bevor. Der Jakobsweg – zu Fuß einmal quer über die Iberische Halbinsel. Bewusst habe ich die Entscheidung für genau diesen Weg getroffen, weil ich tatsächlich mal raus wollte aus meinem aktuellen Leben. Zeit für mich haben wollte. Mal weg sein. Endlich wieder ein Ziel vor Augen haben, was mir beruflich und persönlich so sehnlich fehlte. Da schien dieser uralte Selbstfindungstrip geradezu perfekt.

Und nun keinen Van, keine wilden Tiere und kein wildes Camping. Keine Locals, keine Wellen und keine indischen 3. Klassetickets. Nein. Diesmal nur Europa. Langweilig. Zu Fuß. Noch langweiliger. Sechs Wochen lang Mainstream als einer von vielen. Geht's noch?

800 Kilometer bis nach Santiago de Compostela wollten begangen werden. Einmal quer durch Spanien. Mit Rucksack und Wanderschuhen. Der Zeitpunkt für dieses Sabbatical, wie sie es in meiner Firma nannten, hätte eigentlich nicht besser sein können. 31 Jahre, ledig, orientierungsloser und unbefriedigter Mitarbeiter in einer Social Media Agentur. Zukunftspläne gleich null, Nachhaltigkeit des aktuellen Jobs: unter Null. Was hält dich also noch auf? Let’s go!

Und es sollten die besten, intensivsten und aufregendsten Wochen meines Lebens werden.

Die Vorbereitung war hart, die Vorurteile hartnäckiger

Sechs Monate hatte ich mich akribisch vorbereitet. Habe Feierabende und ganze Wochenenden in Outdoor-Läden verbracht. Könnte eine Masterarbeit über verschiedene Rucksäcke, Mikrofaser-Handtücher und Merinowolle schreiben. Bin in Wanderschuhen zur Arbeit gegangen, absichtlich Umwege gelaufen. Alles nur, um mir die Angst eines möglichen Scheiterns ein bisschen zu nehmen. Denn es gab nur ein geografisches Ziel, die Kathedrale von Santiago de Compostela, und ein persönliches: ankommen. Egal wie. Alles andere wäre eine Enttäuschung gewesen.

Das allgemeine Bild, welches mir aus Medien und Erzählungen bekannt war, war alles andere als vielversprechend. Die 50er-Schlafsäle, Touristenabzocke, Menschenmassen und niemals Ruhe waren noch die angenehmeren Angstmachereien. Vorfreude sieht anders aus. "Da gibt’s doch sicher coolere Wege. Warum läufst du nicht den Pacific Crest Trail von Mexiko nach Kanada? Das ist ein richtiger Trip!", musste ich mir aus dem engsten Freundeskreis anhören. Naja, meine Entscheidung war getroffen. Jetzt gab es für mich kein Zurück mehr.

Immer noch 790 Kilometer und dazu die große Frage des Warum

Nun stand ich Saint-Jean-Pied-de-Port, einem kleinen Dorf mitten in den französischen Pyrenäen. Bereit. 1.200 Höhenmeter auf 28 Kilometer Strecke standen auf der ersten und zugleich körperlich anspruchsvollsten Etappe auf dem Plan. Mit elf Kilogramm Gepäck auf dem Rücken und vielen Zweifeln im Herzen. Es war die reinste Tortur. 24 Kilometer nur steil bergauf.

Schon nach den ersten acht Kilometern musste das erste Blasenpflaster herhalten, aber das atemberaubende Panorama der Pyrenäen, die ungebrochene Motivation, dass es endlich losgeht und die ersten tiefgründigen Gespräche mit Mitpilger*innen ließen keine Zweifel daran, dass ich am Abend im historischen Kloster von Roncesvalles übernachten werde.

Der erste innere Kampf und die Frage, warum man sich auf diesen langen Weg begebe, kamen schon zu Beginn des Caminos oft und unverblümt. Ja, warum denn eigentlich? So richtig konnte ich mich nicht erklären. War es wirklich nur der Grund, dass ich die Pilger*innen in Santiago zufällig vor sechs Jahren schon mal habe ankommen sehen? Dieses Triumphgefühl auch einmal erleben wollte? War es die persönliche Challenge, die ich mal wieder in meinem Leben zu brauchen schien? War es die Auszeit aus der so schnelllebigen Social-Media-Welt? Wer bin ich denn eigentlich? Ich hatte viele Fragen und wenig Antworten. Am Ende meiner Reise sollte es umgekehrt sein. Da hatte ich mehr Antworten als Fragen.

"Wenn du jetzt nicht weißt, warum du den Jakobsweg gehst, dann weißt du es spätestens am Ziel", wurde mir von einem erfahrenen Pilger schon zu Beginn der Reise nahegelegt. Die Gründe, warum so viele Menschen sich auf diesen Weg, diese Wanderung und spirituelle Reise in ihr Innerstes begeben, sind so unterschiedlich wie die Landschaften, die man durchstreift.

Alle Pilger*innen hatten sich bewusst für ihren eigenen Selbsterfahrungstrip im positiven Sinne, ja diese Psychotherapie zu Fuß entschieden, hatten ein persönliches Schicksal, eine berufliche oder persönliche Veränderung hinter oder auch vor sich und wagten vor allem, aus welchem Motiv auch immer, die Konfrontation mit Körper und Geist. Viele waren an einem Scheideweg und an einem Punkt des Umbruchs in ihrem Leben. Keine*r war mehr wert als der*die andere. Es gab keine VIP-Line, keine Rangordnung und keinen gesellschaftlichen Status. Wer du zu Hause bist oder warst, spielte keine Rolle. Ob Maurer*in oder Architekt*in, ob Manager*in oder Arbeitslose*r. Es gab keinen Unterschied und in Wanderschuhen und Regenjacke waren sowieso alle, auch äußerlich, gleich. Jede*r musste denselben Weg zurücklegen. Und der war das Ziel.

Alter, Geschlecht, Religion, Herkunft, Beweggründe oder Schicksale spielen keine Rolle

Welche Menschen tun sich diese Strapazen an, wochenlang zu Fuß, bei strömendem Regen und bei brütender Hitze durch die spanische Landschaft zu gehen? Ich kann es nur schwer beschreiben, aber es war die Welt im Mikrokosmos. Die Menschheit komprimiert auf 800 Kilometer. Ein kleines Abbild mit einem sehr speziellen Spirit.

Ich traf eine junge Lettin, die keine Kinder bekommen kann, zwei US-Amerikaner*innen, die ihre verloren hatten, eine Slowenin auf Jobsuche, einen Schweden, der just for fun unterwegs war, wie er sagte. Urlauber*innen, Rentner*innen und Witwen. Singles und Pärchen. Gläubige und Atheist*innen, Spirituelle, Christ*innen und Muslim*innen. Die Jüngste war 19, der Älteste 81. Pilgernde aus Neuseeland und Südafrika, aus Amerika und Asien. Aus Großstädten und der Provinz.

Ich traf die Menschheit und erlebte Menschlichkeit, wie sie einfach und gut funktionieren könnte. Mit Hilfsbereitschaft, Ehrlichkeit und Rücksichtnahme. Ohne vorschnelle Urteile, politische Ressentiments und vor allem ohne Zeitdruck. Denn das war eines der Geheimnisse, die für mich so besonders waren: Zeit. Und zwar alle dieser Welt. Ein Gut, welches in der modernen und hektischen Welt sehr selten und kostbar geworden ist. Keine Termine, keine Verpflichtungen und keine Einflüsse aus dem gewohnten Umfeld. Nichts. Ein Maximum an Freiheit mit einer kreideleeren To-do-Liste.

Damit muss man erst mal zurechtkommen. Zeit für Gespräche. Zeit für sich. Zeit für den bewussten Aufgang der Sonne und deren Untergang. Zeit für Kaffee im Sitzen und Bücher im Liegen. Zeit für Rotwein und Liebe, für Tränen und Lasten. Zum Aufarbeiten von Gedanken, die man jahrelang dank Instagram und Facebook erfolgreich verdrängt hatte. Nun, in der kargen spanischen Landschaft und ohne Smartphone, gab es keine Ablenkung mehr und die Gedanken kamen wie ein Wirbelsturm aus dem tiefsten, eigenen Untergrund. Dank Digital Detox ungefiltert, ungebremst und ungebrochen. Eine spirituelle Herausforderung im Angesicht der eigenen Seele.

Ganze Tage habe ich erst den Tod und dann das Leben meines Großvaters Revue passieren lassen. Die erbarmungslose Hitze von bis zu 41 Grad im Schatten intensivierte dieses Erlebnis wie ein langsamer, stetig ansteigender Kampf bei der Konfrontation mit mir selbst und der immer detailreicher werdenden Erinnerung. War es vielleicht nur das, dass ich einfach mal Zeit brauchte? Nach Abitur, Studium und perfektem, lückenlosen Lebenslauf? Zeit für mich? Nur sich selbst finden und kennenlernen? Den Sinn des Lebens erkennen? Nur?

Der emotionale Höhepunkt am höchsten Punkt: Das Cruz de Ferro zwingt mich in die Knie

Ich konnte so viele Kleinigkeiten, die ich auf dem Camino erlebt hatte, im Metaphorischen auf mein ganzes Leben übertragen und viel über mich und die Welt lernen. Etwa am Cruz de Ferro, dem höchstem Punkt des Jakobsweges mit einem recht schmucklosen, schmalen Eisenkreuz. 600 Kilometer hatte ich da schon in den Beinen und im Herzen, 200 to go. Die Tradition ist, dass die Pilger*innen einen Stein aus ihrer Heimat hier ablegen. Ob sie das aus Dankbarkeit, Fürbitte, für die Vergangenheit oder die Zukunft, für sich oder für andere ablegen, kann jede*r selbst entscheiden.

Es ist ein wahrlich magischer Ort und ich spürte diese unbeschreibliche Energie, die dieser Platz mit seinen gefühlt zwei Millionen Steinen ausstrahlt. Für mich war es einer der emotionalsten Momente des ganzen Trips, als ich bei Sonnenaufgang an diesem Kreuz ankam. Ich hatte Glück und war nur alleine mit einem Mann vor Ort. Er war etwa 70 Jahre alt, hatte ein Kreuz wie ein Stier und einen Vollbart. Ein Bild von einem gestandenen Mann. Ein scheinbar harter Hund. In absoluter Stille ließen wir diesen Moment auf uns wirken, bis er anfing wie ein Schlosshund zu weinen, zusammenbrach, auf die Knie fiel, ein kleines Fläschchen aus seinem Rucksack holte und die darin befindende Asche auf dem Boden vor dem Kreuz verstreute.

Auch mich packte diese sehr bewegende Situation und auch ich ließ meinen Emotionen, die sich durch die Höhen und Tiefen, die Sorgen und Qualen in den letzten vier Wochen angesammelt hatten, freien Lauf. Ich weiß nicht, ob es die Asche seiner Frau, seiner Tochter oder seines Hundes war. Das tut aber auch nichts zur Sache. Denn was ich aus dieser Situation lernte, war, dass man nie weiß, wie schwer, im übertragenen Sinne, der Rucksack ist, den jede*r auf dem Jakobsweg oder im Leben mit sich trägt und wie schwer oder groß der Stein ist, den die Pilger*innen auf dem Rücken und im Herzen mit sich schleppten.

And now the end is near and so I face the final curtain."

Es gibt keinen Liedtext, der besser zu meinem damaligen Befinden besser passte als Frank Sinatras My Way. "And now the end is near and so I face the final curtain", singt er da. Genau so fühlte ich mich. Ich sah den Vorhang vor mir, der schon bald zu fallen schien. Und es war komisch. Die letzten 200 Kilometer verliefen sehr befreit und unbeschwert, doch je mehr ich mich mit meinen internationalen Bekanntschaften der Kathedrale näherte, kam ein Gefühl der Ungewissheit und Unsicherheit in mir auf. Mit jedem Schritt näherten wir uns dem Ziel, aber auch dem Ende. Was kommt danach? Wo geht der Weg weiter?

Tränen der Dankbarkeit

Die Ankunft war eine emotionale Reizüberflutung für mich. Wie der Mann am Cruz de Ferro, brach auch ich unter Tränen am Boden zusammen als ich die beeindruckende Kathedrale von Santiago de Compostela erblickte. Es waren Tränen des Stolzes. Stolz, diesen beschwerlichen und vollkommenen Weg auf sich genommen und erfolgreich beendet zu haben. Es waren Tränen der Dankbarkeit. Dankbar, überhaupt laufen zu dürfen und zu können. Dankbar, ohne Verletzung die 800 Kilometer bewältigt zu haben. Dankbar für jeden einzelnen Schritt, für jeden Regen, für jede Begegnung und jede Blase. Für die Gedanken und Gespräche, die mich als Mensch haben wachsen lassen.

Und auch einfach dankbar für diese gute Zeit, die mich mein Leben nachhaltig verändern ließen. Ich lernte, dass Santiago nicht das Ziel, sondern der Anfang des eigentlichen Jakobsweges war. Ich bin angekommen. In Santiago. Bei mir. Ich war oft alleine, aber nie einsam. Ich habe gemerkt, dass ich am glücklichsten war, als ich am wenigsten bei mir hatte. Ich habe festgestellt, dass ich meinen Körper, und zwar jede einzelne Faser, nun deutlich besser kenne und spüre als zuvor. Mehr Acht gebe. Ich habe gemerkt, dass es überhaupt nichts bringt, sich über das Wetter auch nur eine Sekunde aufzuregen. Man kann es eh nicht ändern. Stattdessen habe ich öfter mal zum Himmel geschaut. Die Wolken gelesen, die Zeichen gesehen, die Sonne genossen. Gebetet.

Alles ist gut

Nach über sechs Wochen, in denen ich fast ausschließlich in Richtung Westen gelaufen war, drehte ich meinen Körper und meinen Geist erst mal wieder gen Osten. Zurück. Nach Hause. Zurück in meine Münchner Wohnung. Ende Juli bin ich dann daheim angekommen und mir war klar, dass ich in meinem Leben etwas ändern werde. Ich will meinen Wünschen und Träumen mehr folgen. Mehr auf mein Herz und weniger auf meinen Verstand hören. Deshalb habe ich nach kurzer Zeit zurück in der Agentur meinen Job gekündigt ohne neuen Vertrag in der Tasche. Dafür aber mit viel Gottvertrauen, Selbstbewusstsein und Motivation im Rücken, und will nun Geld und Materiellem in Zukunft noch weniger Beachtung schenken.

Stattdessen will ich mehr auf die schönen Seiten der Welt achten und diese als Freelancer journalistisch porträtieren. Es gibt so viel zu erzählen. Ich will meine Zeit intensiver und mein Smartphone seltener nutzen. Ich möchte in Zukunft langsamer gehen und öfter mal anhalten. Bewusst durchschnaufen und auch mal zurückblicken. Mutiger sein. Ich möchte weniger über Menschen schnelle Urteile fällen und einfach zufriedener und dankbarer sein für das, was ich habe. Für scheinbar Selbstverständliches. Für Schatten, für meine Füße, für meine Familie und meine Gesundheit. Für das Leben.

Buen Camino.