Die Zivilgesellschaft in Russland ist seit einigen Jahren stark unter Druck. Mitarbeiter*innen von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) werden als ausländische Agent*innen diffamiert, ihre Räumlichkeiten unangekündigt durchsucht und Geld- oder sogar Haftstrafen angedroht. Für diese Serie traf unser Autor fünf junge Leute, die trotz widriger Umstände in Russland Gutes tun. Dies ist der erste Teil.

Selfies, Urlaubsfotos, Partybilder: Wer Artem auf Instagram folgt, bekommt dort Einblick in das Leben eines fröhlichen jungen Mannes, der ein sorgloses Leben führt. Doch in Wirklichkeit ist sein Leben nicht so sorglos, denn Artem ist homosexuell. Und in Russland hat er damit ein Problem.

"Ich wünsche mir gleiches Recht für alle – und zwar unabhängig von der sexuellen Orientierung und geschlechtlichen Identität", sagt der 28-Jährige. Doch die Realität sieht anders aus: Hasskommentare in sozialen Netzwerken, Erniedrigungen und gewalttätige Übergriffe gehören zum Alltag von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgendern in Russland. Als Artem noch studierte, lauerten ihm häufiger Unbekannte vor seiner Wohnung auf und verprügelt ihn. Die Polizei tat seiner Meinung nach zu wenig dafür, die Täter zu finden.

Die Lage für LGBTQ-Menschen hat sich in Russland in den vergangenen Jahren dramatisch verschlechtert. Bei den Menschen sinkt das Gefühl, von der Gesellschaft anerkannt und respektiert zu werden. Depressionen oder der soziale Rückzug können Folgen sein. Und als wäre das nicht schlimm genug, kommt auch noch Todesangst hinzu, in der Vergangenheit kam es zu brutalen Morden – aus Schwulenhass. "Wir leben in Angst und fühlen uns oft als Menschen zweiter Klasse", sagt Artem.

“Wir wollen Toleranz und Offenheit in der russischen Gesellschaft fördern. Wir fordern die volle Integration von Schwulen, Lesben, Bisexuellen und Transgendern." – Artem

Das Gesetz zur Annahme gegen "homosexuelle Propaganda" – auch als "Verbot der Propaganda nicht traditioneller sexueller Orientierungen unter Minderjährigen" bekannt – heizte die ohnehin schon homophobe Atmosphäre im Land spürbar weiter auf. 2013 ist das Gesetz in Kraft getreten und zwang die LGBTQ-Community noch weiter ins Verborgene. Nun findet der Austausch vielfach fernab der breiten Öffentlichkeit statt, etwa im Internet. "Ich komme aus Tomsk, einer Stadt in Sibirien, hier sind die Menschen zwar toleranter als im benachbarten Novosibirsk, aber auch hier gibt es Probleme mit Diskriminierung", sagt Artem. Deswegen habe er bisweilen Angst, in der Öffentlichkeit mit seinem Partner Hand in Hand zu gehen oder ihn in der Öffentlichkeit zu küssen.

Artem hat beschlossen, das nicht tatenlos über sich ergehen zu lassen. Er hat beschlossen, etwas zu verändern. Der Jurist engagiert sich freiwillig im "Russischen LGBT-Netzwerk". Die Organisation setzt sich für die Beseitigung aller Formen der Diskriminierung nach den Merkmalen der sexuellen Orientierung und Identität ein. "Wir wollen Toleranz und Offenheit in der russischen Gesellschaft fördern und fordern die volle Integration von Schwulen, Lesben, Bisexuellen und Transgendern", erklärt Artem. Zum LGBT-Netzwerk gehören insgesamt 14 überregionale Organisationen mit über 20 regionalen Büros in ganz Russland.

"Wir bieten den Menschen psychologische Hilfe und kostenlose Rechtsberatung an, außerdem organisieren wir Seminare, Diskussionsrunden und jedes Jahr ein Queer-Filmfestival." Das geschieht nicht ohne Probleme: Wenn die LGBTQ-Community in Tomsk eine Veranstaltung organisiert, etwa das Queer-Filmfestival, müssen Sicherheitsleute die Menschen vor homophoben Angriffen schützen.

Das "Anti-Homo Gesetz" macht Artem wütend und traurig. Er fühlt sich ein wenig hilflos. Die Unterstützung von Minderheiten sei dem Verein besonders wichtig – aber Kinder und Jugendliche dürfen laut Gesetz nicht über die Liebe zwischen Partnern*innen gleichen Geschlechts informiert werden. "Wir können seit der Einführung des Gesetzes keine Jugendlichen unter 18 Jahren zu unseren Seminaren, Diskussionsrunden oder zum Kinofestival einladen."

Dabei brauchen vor allem die jungen Leute Unterstützung, die sie zu Hause oft nicht finden. Doch die Angst vor hohen Geldstrafen oder sogar Freiheitsstrafen schreckt die ehrenamtlichen Helfer*innen der NGO zurück. Artem trifft Jugendliche privat, um ihnen Rechtsberatung zu geben.

Die Jugendlichen in Tomsk finden Artem meist über Bekannte, die russische Suchmaschine Yandex oder soziale Netzwerke wie VKontakte oder Facebook. Sie wollen dann über Themen reden, die ihnen Sorgen bereiten, etwa ob sie von zu Hause ausziehen können, weil ihre Eltern ihre sexuelle Orientierung nicht akzeptieren oder ob sie das Recht auf eine kostenlose Beratung bei Ärzt*innen oder Psychologen*innen haben. "Manchmal wollen sie auch wissen, ob und wie sie ihren Namen offiziell ändern können, wenn die Beziehung zu den Eltern wirklich ganz schlecht ist", so Artem.

Der junge Anwalt aus Tomsk ist überzeugt, dass es sich lohnt, weiter zu kämpfen. Man müsse als Gesellschaft dahin kommen, alle Vorurteile aus den Köpfen der Leute zu beseitigen. Und auch wenn Russland noch weit davon entfernt ist, glaubt Artem, dass es eines Tages so sein wird.

Die Versuche der russischen Regierung, NGOs unter staatliche Kontrolle zu bringen, bedrohen die Existenz zahlreicher kritischer und unabhängiger Organisationen in Russland. 2015 ist in Russland sogar ein Gesetz in Kraft getreten, das erlaubt, ausländische NGOs zu verbieten. Human Rights Watch und Amnesty International kritisierten die Maßnahme und teilten mit, "das drakonische Vorgehen ist ein weiterer Schritt normales Leben aus der Zivilgesellschaft zu drängen".