Wer Neigungen hat, die über gewöhnlichen Sex hinausgehen, ist damit häufig ziemlich allein. Im Freundes- oder Bekanntenkreis wird über solche Themen selten gesprochen. Selbst in Partnerschaften trauen sich viele Menschen oft nicht, ihre Neigungen zu offenbaren – sei es aus Scham, ausgelacht oder zurückgewiesen zu werden, sei es aus Angst, den anderen zu überfordern. Konkrete Zahlen, wie viele Menschen, welche sexuellen Neigungen haben, gibt es nicht. Aber die Fülle der Kategorien, die Pornoseiten anbieten, lässt ahnen, dass es verdammt viele sind.

Krank oder nicht?

Zunächst einmal ist wichtig zu wissen: Wer eine sexuelle Neigung hat, ist nicht automatisch krank. Eine psychische Störung, die Psycholog*innen in diesem Zusammenhang Paraphilie nennen, liegt erst vor, wenn die Person mit ihrer Neigung andere gefährdet oder das Gefühl hat, die Neigung ausleben zu müssen. Unter Paraphilie fallen Dinge, welche die Gesellschaft als falsch oder krank ansieht, etwa Sex mit Leichen oder Kindern, aber auch Voyeurismus, Exhibitionsismus, Sadismus oder Masochismus.

Unter Psycholog*innen hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass man solche Vorlieben haben und dennoch komplett gesund sein und ein erfülltes Sexleben haben kann – solange man sich und anderen nicht schadet. Diese Einsicht wurde auch 2013 in die Bibel für Psycholog*innen und Psychater*innen aufgenommen, dem "Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders", kurz DSM. Es ist eine Art Katalog für psychische Störungen. Seither wird zwischen paraphilia and paraphilic disorders unterschieden. Nur noch "disorders" sind demnach behandlungswürdig. Das DSM gilt jedoch nur in den USA. In Deutschland gilt der ICD-10, der Diagnoseschlüssel der Weltgesundheitsorganisation WHO. Auch hier wird die Diagnose nur dann getroffen, wenn die Person mit ihrer Neigung andere gefährdet oder das Gefühl hat, die Neigung ausleben zu müssen.

Gar nicht mal so selten

Sexuelle Interessen, die als Paraphilie gelten, sind relativ häufig. Per Definition gilt Paraphilie als etwas, was von der Norm abweicht. Dass gerade Fantasien über Fesseln oder Auspeitschen nicht so unnormal sind, zeigte etwa eine

Umfrage aus Kanada aus dem Jahr 2014, an der 1.500 Menschen teilnahmen. Gut 40 Prozent der Männer hatten sich schon mal vorgestellt, jemanden zu schlagen oder auszupeitschen – unter den Frauen waren es gut 36 Prozent. Eine

andere kanadische Studie fand heraus, dass rund die Hälfte aller Männer Voyerismus zumindest etwas erregend fanden. Unter Frauen waren 25 Prozent.

Erlernte Neigungen

Woher sexuelle Neigungen kommen, ist nicht genau geklärt. Sie haben vermutlich mehrere Ursachen. Eine der häufigsten Theorien ist jedoch, dass sie erlernte Verhaltensweisen sind. Ein Indiz, das dafür spricht: Wissenschaftler*innen gelang es im Jahr 1966, Menschen auf leichte Fetische zu konditionieren. Sie zeigten Männern abwechselnd Fotos von Stiefeln und von nackten Frauen und testeten dann, wie viel Blut in ihren Penis floss. So wollten sie messen, wie sexuell erregt die Männer waren. Nach einiger Zeit gelang es den Forscher*innen, die selbe Wirkung hervorzurufen, wenn die Männer lediglich die Stiefel sahen und keine nackten Frauen mehr. Andere Forscher*innen konnten das Ergebnis im Jahr 1999 reproduzieren – mit einem anderen Fetischobjekt. Dieses Mal gelang es ihnen, die Männer auf ein Glas voller Münzen zu konditionieren.

Wer schon erregt ist, lässt sich eher auf Ungewöhnliches ein

Könnten sich Männer vorstellen, ein 12-jähriges Mädchen attraktiv zu finden oder davon erregt zu sein, wenn eine Frau pinkelt? In den meisten Fällen antworten Befragte darauf mit: "Gar nicht." Etwas anders sieht das Ergebnis aus, wenn die Person sexuell erregt ist. Das zeigte eine Studie von Dan Ariely und George Loewenstein. Die beiden stellten 35 männlichen Studierenden je 20 Fragen; etwa "Sind Frauenschuhe erotisch, Könnte es Spaß machen mit einer extrem dicken Person Sex zu haben"? Die Probanden sollten die Fragen auf einer Skala von 0 bis 100 bewerten und sie in zwei Zuständen beantworten – einmal, wenn sie unerregt waren und einmal, wenn sie masturbierten. Im erregten Zustand waren nahezu alle eher ungewöhnlichen Vorstellungen attraktiver als im unerregten Zustand.Eine andere Studie mit Frauen kam zu einem ähnlichem Ergebnis. Dafür wurden 90 Frauen in drei Gruppen eingeteilt und jeder Gruppe unterschiedliche Videos gezeigt: ein Porno, eine Zugfahrt eine Outdoor-Sport-Aktivität. Danach sollten die Frauen verschiedene, eklige Sachen tun: zum Beispiel in eine Schüssel mit benutzen Kondomen greifen. Frauen, die durch die Pornos sexuell erregt waren, bewerteten diese Tätigkeiten als weniger abstoßend – anders als Frauen, die nicht erregt waren.

Was wir als scharf oder widerlich empfinden, hängt also auch damit zusammen, in welchem Gemütszustand wir sind. Sexuellen Neigungen, die wir im normalen Zustand ablehnen, können, wenn wir geil sind, zumindest weniger abstoßend erscheinen.

  • Dieser Artikel ist inspiriert von Justin Lehmillers Beitrag "5 things you should know about unusual sexual interests and the people who have them"
  • Mehr zum Thema Paraphilie auf der Homepage der Sexualmedizin der Charité