Ich bin vor kurzem die Treppe runtergefallen. Einfach so. Ausgerutscht. Ich schlug mir mein Knie auf und konnte es tagelang nicht ohne Schmerzen bewegen. Am Wochenende darauf fuhr ich, wie lange geplant, mit meinem Freund in die Natur. Statt ausgedehnter Wanderungen humpelte ich durch die fränkische Schweiz.

Was aber mehr schmerzte als mein Knie waren die Selbstvorwürfe: "Wie konnte dir das passieren?", "Bist du zu blöd, die Treppe runterzulaufen?" Obwohl mir nichts Schlimmes zugestoßen war (oder gerade deshalb?), suchte ich die Schuld bei mir. So groß wie meine Vorfreude auf das Wochenende war nun der Ärger über den vermeintlich vermeidbaren Unfall.

Warum war ich so hart mit mir?

Anspruch macht hart

Selbstkritik ist keine natürliche Charaktereigenschaft. Sie ist antrainiert. Wenn Kleinkinder stürzen, kommen die Eltern, trösten und pusten. Und die Kinder stehen wieder auf. Erwachsene fallen seltener hin – zumindest physisch. In einer neoliberalen Leistungsgesellschaft müssen sie funktionieren. In einem Narrativ, in dem sie alles schaffen können, ihres Glückes Schmied sind, wird auch jedes Scheitern zur eigenen Verantwortung. In diesem ungnädigen System, in dem immer mehr gegen sich selbst kämpfen, leiden auch immer mehr Menschen unter Selbstzweifeln, Ängsten oder Depressionen.

Und wenn Erwachsene ihren Halt verlieren, kommen ihre Eltern nicht mehr, um zu trösten.

Also müssen wir uns selbst aufbauen. Das können wir lernen. Kristin Neff, Professorin an der Psychologischen Fakultät der Universität Texas, forscht und lehrt seit Jahren über Selbstmitgefühl. In der Wissenschaft wurde das Feld bislang wenig beachtet. Im Buddhismus und in der Meditation ist es gängige Praxis, mittlerweile beschäftigt sich auch die Psychologie und Neurowissenschaft mit dem Thema. In Deutschland ist Tania Singer, Direktorin am Leipziger Max-Planck-Institut für Soziale Neurowissenschaft, eine der Pionier*innen, die mit Neff gemeinsam publizierte.

Der Mensch in uns

Um für andere da sein zu können, muss man zunächst für sich selbst sorgen können. Selbstmitgefühl ist ein Weg, sich mit dem sogenannten Menschen in sich zu verbinden. Mit persönlichen Fehlern, aber auch mit äußeren Belastungen. Selbstmitgefühl ist nicht zu verwechseln mit Selbstmitleid oder Selbstgefälligkeit. Es geht dabei nicht darum, negative Gefühle auszulöschen oder durch positive Gedanken zu ersetzen und sich gedanklich zu erheben. Im Gegenteil: Es geht darum, das Negative, das Schlimme, das Belastende zu sehen und anzuerkennen. Es geht darum, liebevoller und weicher mit sich selbst zu sein.

So verbindet man sich mit einem universell-menschlichen Gefühl: Leid. Für manche kann diese Selbstzuwendung den Schmerz zunächst kurzzeitig verstärken und verdrängte Gefühle an die Oberfläche holen. Regelmäßiges Üben stärkt die Resilienz und hilft so, mit Konflikten, Krisen und Schicksalsschlägen besser umzugehen. Von philosophischen Überlegungen über Körperübungen bis hin zu Meditation gibt es verschiedene Wege, die eigene Selbstfürsorge zu üben. Hier einige Vorschläge:

Schritt 1: Herausforderungen anerkennen

Hast du ein Vorstellungsgespräch verbockt? Wurdest du verlassen? Musst du einen kranken Menschen pflegen? Das sind krasse Erfahrungen. Wir vergessen oft, die alltäglichen Herausforderungen anzuerkennen. Was für andere Menschen eine leichte Übung sein mag, kann für dich schwer sein. Die eigenen Grenzen zu erkennen und zu akzeptieren, was man selbst als Herausforderung wahrnimmt, kann helfen, liebevoller mit sich selbst umzugehen.

Schritt 2: Leiden gehört zum Menschsein

Klingt wie eine Plattitüde, aber hinter dem Satz "Jeder Mensch ist fehlerhaft" steckt eine heilsame Erkenntnis: Zwar ist jedes Leid individuell, aber im Leiden sind alle Menschen gleich. Jeder Mensch erfährt Schmerz und Enttäuschung, ob selbstverschuldet oder nicht, und das verbindet uns. Dieser Ansatz kann helfen, sich in Krisenzeiten nicht gedanklich zu isolieren, sondern zu beruhigen: Es ist die Gewissheit, dass das Leiden zum Menschsein dazugehört.

Schritt 3: Wir können nicht alles kontrollieren

Wir sind nicht für alles, was in unserem Leben passiert, zuständig. Glück fällt einem zu – wie auch Unglück. Dinge selbst in die Hand zu nehmen, kann eine stärkende Erfahrung sein. Das trifft aber nur auf die Dinge zu, die wir tatsächlich beeinflussen können. Von allen anderen gefühlten Verantwortung sollten wir uns freimachen.

Sich selbst ein*e Freund*in sein

Selbstmitgefühl ist wie ein Muskel, den man durch regelmäßiges Training stärken kann. Hier findest du angeleitete Meditationen, die zu Beginn hilfreich sein können. Wem das nicht zusagt, der*die kann Selbstmitgefühl mit diesen Übungen selbst probieren:

Übung 1: Gespräch wie mit einem*r Freund*in

Wenn ein Fehler passiert, geraten viele von uns in eine Form der Selbstgeißelung. Es tauchen Gedanken auf, die man niemandem ins Gesicht sagen wollen würde: "War ja klar", "Du hast es nicht hingekriegt", "Du bist zu dumm". Guten Freund*innen begegnen wir hingegen liebe- und verständnisvoller, wenn sie in einer Krisen stecken. Wer sich in Gedanken selbst abstraft, dem*der kann es helfen, sich ein Gespräch mit eine*m guten Freund*in vorzustellen. Was würdest du dieser Person sagen? Wahrscheinlich etwas wie: "Du machst gerade echt viel durch", "Das ist hart", "Wow, das wäre auch für mich viel". Sag es dir selbst, wenn du eine Krise hast.

Wenn es dir schwer fällt, selbstkritische Gedanken zu stoppen, kann es zu Beginn auch hilfreich sein, sich vorzustellen, wie deine*n beste*n Freund*in das sagt.

Übung 2: Sich selbst Gutes tun

Wem es schwer fällt, Zugang zu liebevollen Gedanken zu finden oder es albern findet, kann sich ganz simpel einfach etwas Gutes tun. Eine Tasse Tee, ein heißes Bad oder ein Lieblingsfilm. Auch diese Aktivitäten sind Formen der Selbstfürsorge.

Übung 3: Durchatmen

Der Klassiker: Atmen. In Stressphasen flacht der Atem ab. Sich auf ihn zu konzentrieren, hilft, den Gedankenstrudel kurzzeitig zu durchbrechen. Mithilfe von Gedanken kannst du diesen Effekt verstärken: Sage dir beim Einatmen das Wort "Annehmen" und beim Ausatmen "Loslassen". Du wirst spüren, wie deine Gefühle mehr Raum bekommen und deine Anspannung sinkt. Auch andere Übungen zur Körperwahrnehmung, wie der Versuch, die Fußsohlen bewusst zu spüren, können ähnliche Effekte haben.

Weiterlaufen

Mir ist im Leben Schlimmeres zugestoßen, als die Treppe runterzufallen. Jeden Tag passieren Herausforderungen, in meinem Leben und auf der ganzen Welt. Wir können nicht alle beeinflussen. Manchmal sind es große, ein Trump, ein Tod oder eine Trennung. Aber oft genug sind es kleine: Der Freund hört nicht zu, die Chefin ist maulig oder eben dein Knie verstaucht.

So banal mein kleiner Unfall auch war, er hat mir gezeigt, wie verletzlich ich bin. Und wie hart ich zu mir sein kann, wenn ein Stolperer mich ausbremst und meine Pläne durchkreuzt. An diesem Wochenende habe ich in Humpelschritten geübt, weich mit mir zu sein. Am Anfang habe ich mich verflucht, am Ende nur noch die Treppe. Ich habe mir meinen Ärger und meinen Schmerz angesehen. Ich bin mir sicher: Je öfter ich Selbstmitgefühl trainiere, desto mehr werde ich auch für die großen Krisen vorbereitet sein.

Ich werde mich wieder ärgern, wenn ich das nächste Mal stürze – das weiß ich. Aber ich werde mich trösten, mein Knie pusten und weiterlaufen.

Womit haderst du? Wie gehst du mit Fehlern oder Schicksalsschlägen um? Schick mir eine Mail.