Die Beziehung zwischen Kind und Eltern ist die engste unseres Lebens. Warum bricht sie manchmal und wie verarbeiten das die Betroffenen? In einer sechsteiligen Serie gehen wir dieser Frage nach. Wir konzentrieren uns in der Serie auf die Sicht der Kinder.

Wie Eltern damit umgehen, lest ihr in diesem Artikel.

Jürgen*, 59, Bodenseeregion

Mein Vater ist heute 91 und seit ich denken kann, umgab ihn eine gewisse Kühle. Als ich klein war, wollten Spielkameraden wegen ihm nicht mit zu mir. Er arbeitete als Exportleiter und war deshalb viel unterwegs. Ich blieb mit meinen Schwestern und meiner alkoholkranken Mutter zu Hause. Meine jüngeren Schwestern verbrachten mehr Zeit mit ihren Freunden und so blieb es an mir hängen, mich um sie kümmern. Manchmal war sie abends so betrunken, dass ich sie aus der Kneipe abholten musste, weil sie es alleine nicht mehr nach Hause schaffte. Sie starb, als ich 34 Jahre alt war.

Ich habe meinem Vater später vorgeworfen, dass er mich in meiner Jugend mit meiner kranken Mutter alleingelassen hat. Er leugnete dann, dass sie alkoholkrank ist und die Gespräche wurden sehr schnell einseitig. Es waren eher Monologe als Dialoge. Ich habe meinen Vater zwar nicht als Rabenvater erlebt, aber als physisch und emotional abwesend.

Nachdem ich ausgezogen bin und meine eigene Familie gegründet habe, hatte ich mit ihm und meinen drei Geschwistern eher sporadisch Kontakt. Wir telefonierten hin und wieder und sahen uns noch seltener. Wir sind schon eine sehr kontaktlose Familie.

Der Auslöser für den Kontaktabbruch war ein Fahrradunfall meiner Tochter. Es war zum Glück nichts Ernstes. Er hat über meine Geschwister davon erfahren und schickte dann einen Scheck über 50 Euro. Da lag ein Zettel dabei, auf dem sonst nur "Gute Besserung" stand. Meine Frau und ich waren sehr überrascht von dieser Art der Anteilnahme und auch die Kinder fanden es sonderbar. Wir haben uns entschieden, den Scheck zurückzuschicken und haben einen Brief beigelegt, in dem stand, dass wir seine Reaktion unpassend fanden.

Für ihn war das wohl ein Affront."

Wenig später kam ein Brief von ihm, den er mit Schreibmaschine geschrieben hatte. Darin stand: "Ich möchte keinen Kontakt mehr zu dir. Ich will mir meine letzten Jahre nicht von meinem Sohn kaputtmachen lassen." Das war alles. Eine wirkliche Begründung gab es nicht. Damals hat mich der Brief nicht so sehr getroffen, ich dachte mir: "Na gut, so ist er eben." 

Dennoch wollte ich irgendwann wissen, was ihn zu dem Brief bewogen hatte und versuchte ihn anzurufen. Doch seine zweite Frau wimmelte mich ab und sagte: "Dein Vater braucht gerade Ruhe, er mag jetzt nicht mit dir sprechen." Das war aber meiner Meinung nach ein Vorwand, denn ich hatte ja gehört, wie sie im Hintergrund mit ihm sprach und ihm erzählte, dass ich am Apparat sei. Sie meinte dann noch, dass ich ihm einen Brief schreiben sollte, den würde er bestimmt beantworten.

Ich habe ihm dann geschrieben, dass ich uns beide für sture Esel halte und davon überzeugt wäre, dass dieses Verhalten uns beiden nichts brächte. Ich schlug ihm ein Treffen an einem neutralen Ort vor und miteinander zu sprechen. Darauf kam ein knapp gehaltener Brief. Darin teilte er mir mit, dass er nicht dieser Meinung sei und weiterhin nichts von mir hören wolle.

Seitdem herrscht Funkstille. Das ist jetzt neun Jahre her."

Über meine Schwestern habe ich später erfahren, dass er immer das Gefühl hatte, dass ich gestört habe. Er sagte zu ihnen Sachen wie "Er hat damals im Garten schon die Hecken zu kurz geschnitten." Ich glaube, dass er nichts mehr von mir wissen will, hat viel damit zu tun, dass ich ihn in meiner Jugend kritisiert habe.

Einfach zu den Akten legen kann ich das Thema aber nicht. Es beschäftigt mich noch immer. Ich bin wütend, weil er einfach so in einem Brief entschieden hat, dass der Kontakt jetzt zu Ende ist. Ich bin aber auch traurig, weil ich ihn gerne als Großvater für meine Kinder hätte und auch als Vorbild für meinen eigenen Alterungsprozess.

Ich glaube nicht, dass sich an unserem Zustand noch etwas ändert. Wenn er stirbt, werde ich trotzdem zur Beerdigung gehen. Ich bin gespannt, wie ich mich dann fühlen werde. Wahrscheinlich werde ich trotz allem am Grab stehen und heulen.

* Name geändert

Am kommenden Wochenende erscheint der letzte Teil unserer Serie "Ohne meine Eltern". In Teil 1 bis 3 kamen Betroffene zu Wort: Kinder, die Opfer von Gewalt geworden sind (Teil 1), die von ihren Eltern im Stich gelassen wurden (Teil 2) oder emotional erpresst werden (Teil 3). In Teil 4 äußerten sich Expert*innen zum Thema Kontaktabbruch. Die Serie endet mit einem Protokoll über eine 20-Jährige, die nach einer Zeit der Funkstille wieder Kontakt zu ihrem Vater hat.