Die Beziehung zwischen Kind und Eltern ist die engste unseres Lebens. Warum bricht sie manchmal und wie gehen Betroffene damit um? In einer sechsteiligen Serie gehen wir dieser Frage nach. Wir konzentrieren uns in der Serie auf die Sicht der Kinder.

Wie Eltern damit umgehen, lest ihr in diesem Artikel aus dem ze.tt-Archiv.

Anna*, 22:

Meine Kindheit war sehr schön. Wir wussten, dass wir zu Hause sicher sind. Ich habe meinen Eltern vertraut und sie waren glücklich miteinander. Ich hatte das Gefühl, dass sie sich sehr gut verstanden haben und dass sie auch gute Freund*innen sind. 

Das änderte sich, als ich 18 war. Dann ist der Vater meines Vaters gestorben. Er hatte gemeinsam mit meinem Papa und dessen Bruder eine Firma. Nachdem mein Opa gestorben war, hat mein Vater versucht, die Firma aufzuteilen. Das wollte aber weder der Bruder noch seine Mutter. Dann ist mein Vater komplett ausgestiegen. Das war auch immer der Wunsch meiner Mutter – es hatte öfter Streit wegen der Firma gegeben. 

Nachdem mein Vater ausgestiegen war, hat sich meine Mutter langsam distanziert. Sie stritten sich plötzlich vor uns Kindern, was vorher nie passierte. Ich glaube, meine Mutter hat lange unter der Schwiegerfamilie gelitten und hatte die Hoffnung, dass es irgendwann besser wird. Und sie hatte nie das Gefühl, dass mein Vater sie da genug verteidigt. Die Sachen haben sich angehäuft und irgendwann wollte sie nicht mehr. Sie trennten sich. 

Mein Vater war völlig verwirrt und wirkte hilflos. Er fing an zu trinken.

Er begann schließlich eine Therapie, hat sich eine eigene Wohnung genommen – und ist jetzt trocken. Mittlerweile habe ich wieder ein gutes Verhältnis zu ihm. 

Währenddessen hat sich meine Mutter nach anderen Männern umgeschaut. Sie hatte eine Affäre mit einem Mann, von der wir zunächst nichts wussten. Sie vergötterte ihn. 

Und dann kam raus, dass dieser Mann meine Schwester missbraucht hat. Es war ein Mann, den wir Kinder über ein gemeinsames Hobby sehr gut kannten. Meine Mutter wusste zunächst nicht, dass er meiner Schwester etwas angetan hat. Es begann schleichend. Erst hat er ihr Komplimente gemacht, dann ist er fordernd geworden und sie wurde abhängig von ihm. Irgendwann hat sich meine Schwester entschieden, die Sache offen zu legen.

Erst da kam heraus, dass meine Mutter mit ihm eine Affäre hat. Den Missbrauch an meiner Schwester hat sie nicht ernst genommen. Sie hat es nicht geglaubt, kein Verständnis für sie. Und sie hat ihn nicht zur Rede gestellt, sondern nur ihre eigene Situation gerechtfertigt.

Ich war so wütend, dass ich erstmal gar nichts zu ihr sagen konnte. Ich hab ihr dann eine lange Mail geschrieben, sachlich, aber trotzdem deutlich. Sie antwortete, dass es ihr zur Zeit der Trennung so schlecht ging, dass sie ohne diese Affäre nicht überlebt hätte. Diese Gefühle kann ich nachvollziehen. Dass sie sich schlecht gefühlt hat und mein Vater nicht für sie da war. Aber zu sagen: "Ich musste halt meinen Gefühlen folgen", ohne sich zu entschuldigen, das ist zu krass.

Daraufhin haben meine Schwester und ich den Kontakt abgebrochen. Wir konnten nicht ertragen, dass sie nicht zu uns gehalten hat. Sie hat ihre Kinder verraten. Ich vermisse sie nicht. Es ist erleichternd, keinen Kontakt mehr zu ihr zu haben. Aber ein seltsames Gefühl ist es trotzdem. Ich war es ja zwanzig Jahre lang gewohnt, mit meiner Mutter viel Kontakt zu haben. Und es ist seltsam, dass ich sie nicht mehr anrufe, wenn irgendetwas ist oder dass ich jetzt mit anderen Leuten darüber spreche.

Irgendwie ist die Vorstellung komisch, bis zu meinem Lebensende keinen Kontakt mehr zu ihr zu haben. Aber ich kann mir gerade nicht vorstellen, dass wir irgendwann mal wieder Kontakt haben. Sie müsste erstmal ehrlich werden. Sie müsste sich entschuldigen. Aber momentan hat sie die Einstellung: Wenn ihr Kontakt mit mir möchtet, dann könnt ihr das gern machen. Ich hab das Gefühl, sie möchte nicht zugeben, dass sie was falsch gemacht hat. Da ist so viel Stolz dabei. 

Letztes Jahr ist meine Mutter 50 geworden. Wir haben ihr trotzdem alle gratuliert. Am Ende ist sie ja unsere Mutter. Zum Nikolaus hat sie uns dann ein großes Paket geschickt. Ich war verwirrt. Ich hab ihr geschrieben und mich förmlich bedankt. Gefreut habe ich mich aber nicht so richtig. Es waren schöne Sachen dabei, aber was sollte das? Das ist keine Methode, etwas gut zu machen. 

Elli*, 27:

Ich bin 1989 in der DDR geboren. Meine Mutter arbeitete Vollzeit und hat sich danach um meine Schwester, mich und das Haus gekümmert. Mein Vater hat sich daran kaum beteiligt. Das hat meine Mutter unglücklich gemacht. Manchmal hat er ganz stolz erzählt, dass er auch kochen kann, wenn er mal ein Spiegelei gebraten hat. 

Als ich neun war, haben sie sich getrennt. Etwa ein Jahr später hat meine Mutter einen neuen Freund kennengelernt, der DJ war. Plötzlich war sie ständig feiern und hat viel getrunken. Ich hatte das Gefühl, als wäre meine Mutter mit Mitte dreißig nochmal zur Teenagerin geworden. Mit vierzehn habe ich mitbekommen, dass meine Mutter und ihr neuer Freund auch Drogen nehmen. Wäre ich älter gewesen, hätte sie mich bestimmt mitgenommen, aber ich war zu jung. Ich war nie dabei, meine Schwester schon. Sie ist sieben Jahre älter als ich. In der Situation damals ist sie mitgekommen, weil sie auf meine Mutter aufpassen wollte. Meine Mutter hatte meiner Schwester damals auch Drogen gegeben und gesagt: Leb dein Leben. 

Wenn meine Mutter zu viel getrunken hatte, hat meine Schwester sie ins Bett gebracht und auf sie aufgepasst. Sie hat die Rolle meiner Mutter eingenommen

Mit 18 bin ich ausgezogen. Der Kontakt zu meiner Mutter wurde wenig, bis ich irgendwann nichts mehr von ihr gehört habe. Dann habe ich erfahren, warum: Sie war im Zeug*innenschutzprogramm, weil sie in einem Drogenring mitdrinsteckte und sich da alle gegenseitig verraten haben. Ihr Freund musste sogar ins Gefängnis. 

Meine Schwester hat irgendwann eine Therapie angefangen, weil sie die Beziehung zu meiner Mutter so belastete. Als sie merkte, wie krass das alles war, hat sie den Kontakt zu meiner Mutter abgebrochen. Auch ich habe zu ihr gesagt, dass es so nicht mehr weiter geht. Lange hat sie so getan, als wisse sie nicht, was wir meinen. 2015 habe ich ihr ganz ruhig gesagt, dass ich keinen Kontakt mehr möchte. Da war sie ganz verständnisvoll, was ich irgendwie komisch fand. Aber sie meinte: Wenn das für dich zu viel ist, dann kann ich das verstehen. 

Auch zu meinem Vater habe ich keinen Kontakt mehr. Ich hatte nie ein gutes Verhältnis zu ihm, aber das wollte ich mir lange nicht eingestehen. Ich hatte diese Idealvorstellung von ihm: Mein Vater war ein guter Vater. Aber durch eine Therapie habe ich gemerkt, dass ich zu lange geglaubt habe, was er gesagt hat. Nämlich, dass seine Töchter an erster Stelle stehen und das Wichtigste in seinem Leben sind. Er hat aber im Laufe des Lebens immer wieder Dinge getan, die dem entgegenstehen. Ich hab auch einige Male mit ihm gesprochen und gesagt: Das sind meine Probleme, das wünsche ich mir. Aber dann saßen wir voreinander und schwiegen uns an. Wir haben uns nichts mehr zu sagen. 

Mir geht es supergut, seitdem ich keinen Kontakt mehr zu meinen Eltern hab. Es war eine der besten Entscheidungen, die ich je getroffen hab. Am Anfang hatte ich viele Albträume, dachte, ich muss zurück – besonders zu meinem Vater. Aber jetzt bin ich froh, dass ich keinen Kontakt mehr haben muss. Auch meine Mutter vermisse ich nicht. Ich bin jetzt 27, seit ich 18 bin, kenne ich sie nicht mehr als Mutter. Sie hat sich auch immer eher als Freundin gesehen. Ich will keinen Kontakt mehr zu ihnen haben. Ich habe gehört, dass meine Mutter immer noch trinkt und kifft. 

Ich bin gerade schwanger und nächsten Monat kommt das Kind. Wir planen nicht, es meinem Vater zu zeigen, aber es kann natürlich zufällig passieren, dass wir uns treffen. Dann kann er sich das Engelchen gern angucken. Bei meiner Mutter kann ich mir das überhaupt nicht vorstellen. Eigentlich bin ich gerade sehr froh, dass sie nicht die Großeltern sind. Eine Weile hab ich überlegt, ob ich wegen des Kindes den Kontakt halten muss, aber mittlerweile bin ich überzeugt: lieber gar keine Eltern als diese. Wie sie mit Kindern umgehen, darauf kann ich verzichten. 

An den kommenden vier Wochenenden erscheint je ein weiterer Teil unserer Serie "Ohne meine Eltern". In Teil 1 bis 3 kommen Betroffene zu Wort, in Teil 4 äußern sich Expert*innen zu diesem Thema. Teil 5 widmet sich dem umgekehrten Fall: Wie fühlt es sich an, wenn der eigene Vater den Kontakt zum Sohn abbricht? Die Serie endet mit mit einem Protokoll über eine 20-Jährige, die nach einer Zeit der Funkstille wieder Kontakt zu ihrem Vater hat. 

* alle Namen geändert