Der gesunde menschliche Körper ist wie eine perfekt getaktete Maschine. Durch unzählige, höchst komplexe Mechanismen hält er uns am Leben. Doch auch Maschinen verschleißen irgendwann. Es schleichen sich Fehler ein und die perfekte Taktung, diese fein aufeinander abgestimmten Prozesse geraten plötzlich durcheinander.

Ich war 21 Jahre alt, als sich der Fehler bei mir nicht einschlich, sondern hereinplatzte. Anstatt mich vor Krankheiten zu schützen, hat mein eigenes Immunsystem angefangen, die insulinproduzierenden Zellen meiner Bauchspeicheldrüse zu zerstören. Mein eigener Körper hat mir den Krieg erklärt. Mein neuer Feind: Diabetes Typ 1.

Ich hatte das Gefühl, nichts könne mir etwas anhaben

Angefangen hat es vor zwei Jahren während meines Auslandssemesters in Santiago de Chile. In der Zeit, welche die beste meines Lebens hätte werden sollen, fing ich mir eine gewöhnliche Erkältung ein. Doch anstatt sie auszukurieren, ging ich lieber feiern. Wie das mit Anfang 20 eben so ist, hatte ich das Gefühl, nichts könne mir etwas anhaben. Kein Alkohol, keine Drogen, keine durchtanzten Nächte. Mein Körper war wie eine unbezwingbare Festung. Zumindest dachte ich das.

Durch die starke körperliche Belastung verschleppte ich den grippalen Infekt zwei Wochen lang. Als dieser endlich verschwand, plagten mich plötzlich neue Symptome. Ich bekam Pusteln an den Händen, war den ganzen Tag müde. Am meisten machte mir jedoch ein unstillbarer Durst zu schaffen. Sieben bis acht Liter schüttete ich täglich in mich hinein.

Während ich mir auf meine scheinbar zusammenhangslosen Symptome keinen Reim machen konnte und den Durst weiterhin auf die chilenische Hitze schob, stand die Online-Diagnose fest. Alles deutete auf eine Diabeteserkrankung hin. Aber an Diabetes erkrankten, so dachte ich, nur übergewichtige Menschen. Zudem dichtete mir das Internet von Krebs bis Multiple Sklerose noch so einiges mehr an. Die Angst, die sich langsam bei mir breitmachte, versuchte ich zu ignorieren.

Als die Symptome nach acht Wochen immer noch nicht abklangen, ging ich schließlich zum Arzt. Auf eine unspektakuläre Blutabnahme folgte drei Tage später die Diagnose: Diabetes Typ 1. Minuten später befand ich mich schon in der Notaufnahme, wo mir das ärztliche Fachpersonal sagte, dass ich von Glück sprechen könne, nicht ins Koma gefallen zu sein. Immerhin blieb der Diabetes ganze zwei Monate undiagnostiziert und daher unbehandelt.

Ich wollte wissen, wie das sein könne. Wie ein junger, gesunder Mensch plötzlich krank werde. Chronisch. Einfach so. Die Antwort fühlt sich bis heute an wie ein Schlag ins Gesicht. Ausgelöst wurde der Diabetes wahrscheinlich durch eine Überreaktion meines Immunsystems auf die verschleppte Erkältung. Eine chronische Krankheit als Quittung für ein wenig unbedachten Spaß.

Das alles fühlte sich surreal an. Während ich einige Tage zuvor noch scheinbar gesund war und mit Student*innen aus aller Welt Spanisch lernte, wurde mir nun beigebracht, wie ich mir Insulin spritze, wie ich meinen Blutzucker messe und dass jede Unterzuckerung akut lebensgefährlich sein könne. All diese Informationen nahm ich fast schon stoisch auf. Ich habe kein einziges Mal geweint, ich habe keine Wut empfunden. Damals hielt ich das für Tapferkeit. Heute weiß ich, dass ich alle Emotionen von mir abkapselte. Anders konnte ich in meiner Überforderung nicht damit umgehen. Damit, dass mein Leben von nun an ein anderes sein würde.

Der Diabetes verlangt die volle Aufmerksamkeit der Betroffenen

Während der Diabetes Typ 2 meist auf eine ungesunde Lebensführung zurückzuführen ist, gehört der Diabetes Typ 1 zu den Autoimmunerkrankungen. Eine Aussicht auf Heilung gibt es derzeit nicht. Nun ist Diabetes kein Krebs, aber eben auch keine Erkältung. Es ist eine Krankheit, mit der es sich mittlerweile zwar gut leben, die einen aber niemals in Ruhe lässt. Sie erfordert eine Rundumüberwachung des eigenen Körpers. Den Vollzeitjob der Bauchspeicheldrüse müssen die Erkrankten selbst übernehmen. Das bedeutet, dass sie sich vor jeder Mahlzeit die richtige Menge Insulin spritzen müssen. Diese richtet sich dabei nach dem Anteil an Kohlenhydraten, der in dem Essen enthalten ist.

Eine Schätzung, die gefährlich werden kann. Spritzen sich die Erkrankten zu wenig Insulin, steigt der Blutzucker über den Sollwert. Die möglichen Folgeschäden langfristig erhöhter Blutzuckerwerte lesen sich dabei wie folgt: Schädigung der Nervenzellen, Nierenversagen, Schädigung der Netzhaut bis hin zur Erblindung, Impotenz, diabetisches Fußsyndrom; um nur einige zu nennen. Spritzen sich die Erkrankten wiederum zu viel Insulin, sackt der Blutzucker ab und es wird akut gefährlich. Was mit Zittern und Schwitzen beginnt, kann im Koma und schlimmstenfalls tödlich enden. Zudem deuten neuere Erkenntnisse darauf hin, dass Diabetiker*innen ein erheblich höheres Risiko haben, an Demenz zu erkranken. Diabetes richtet also nicht nur auf der körperlichen, sondern auch auf der kognitiven Ebene Schäden an.

Eine Woche nach der Diagnose betrat ich wieder deutschen Boden, vier Monate früher als geplant. Meine Ärztin erzählte mir, dass einige Patient*innen die Krankheit erst nach Jahren oder sogar niemals ganz akzeptierten. Dabei war das alles doch gar nicht so schwer, dachte ich mir. Blutzucker messen, spritzen, weniger Kohlehydrate, weniger Alkohol, nicht rauchen. Dass ich selbst noch weit von jeglicher Akzeptanz entfernt war, sollte ich erst später bemerken.

Ich bin krank. Ich werde es für den Rest meines Lebens sein und daran bin ich selbst schuld.

Ich wollte den Diabetes beherrschen. Ich saugte also alle Informationen auf, die mir zwischen die Finger kamen. Als ich in einer schlaflosen Nacht gerade etliche Foren für Betroffene durchforstete, traf es mich plötzlich wie ein Schlag: Ein User fragte die Community, ob es sich als Diabetiker*in überhaupt lohne, in die private Altersvorsorge zu investieren. So alt werde man ja sowieso nicht. Ich wurde von Gedanken überflutet: Ich bin krank. Ich werde es für den Rest meines Lebens sein und daran bin ich selbst schuld. Mein Körper ist endlich. Und ich bin es auch.

Mit einem Schwall kamen die Angst, die Wut, die Trauer hoch, die ich so lange unterdrückte. Ich wusste nicht, wohin mit mir. Ich riss Bücher vom Regal und schmiss sie durch das Zimmer. Ich ballte meine Faust und schlug so fest gegen die Wand, dass ich blutete. Die Tränen flossen unaufhörlich, ich konnte einfach nichts dagegen tun. Es war ein filmreifer emotionaler Breakdown.

Als ich meiner Ärztin von dem Forumsbeitrag erzählte, erklärte sie mir, dass die Lebenserwartung von Typ-1-Diabetiker*innen der von gesunden Menschen mittlerweile relativ nahe komme. Dass der Diabetes kein Todesurteil mehr sei. Dass sich die Lebensbedingungen durch den stetigen medizinischen Fortschritt konstant verbesserten. Diese Erkenntnisse und viel Zeit trugen dazu bei, dass sich die Wut und die Trauer langsam zu so etwas wie Akzeptanz wandelten.

In diesem Prozess spielten Freund*innen und Familie zwar eine passive, aber dennoch essenzielle Rolle. Passiv, weil ich ihre Unterstützung nur selten in Anspruch nahm. Nicht wegen mangelndem Verständnis ihrerseits. Vielmehr wollte ich die Aufmerksamkeit von der Krankheit weglenken, um Normalität zu erzeugen. Essenziell, weil sie es sofort als meine neue Lebensrealität akzeptierten. Das bedeutet, dass sie mich von Anfang an nicht mit Samthandschuhen anfassten. Und es bedeutet auch, dass sie es akzeptieren, wenn ich aufgrund einer Unterzuckerung manchmal zu müde zum Ausgehen bin.

Doch auch wenn sich Routine einstellt, bleibt der Diabetes eine Krankheit, die meine Gedanken regelrecht infizieren. Habe ich mein Insulin dabei? Mein Messgerät? Wie hoch ist mein Blutzucker? Wie viele Kohlenhydrate sind in meinem Essen? Wann treten die ersten Folgeschäden auf? Werde ich an ihnen sterben? Vererbe ich die Krankheit an meine Kinder? Wann ist mein nächster Arzttermin? Kann ich mich in der Öffentlichkeit spritzen? Es sind solche Fragen, die Diabetiker*innen täglich begleiten. Fragen, die ermüden und einen manchmal verzweifeln lassen. Fragen, denen manche Betroffene komplett aus dem Weg gehen, trotz verheerender Folgen.

Wollen die Betroffenen gesund bleiben, müssen sie die Krankheit akzeptieren

Den Vollzeitjob der Bauchspeicheldrüse habe ich angenommen. In den eigenen vier Wänden fällt mir das relativ leicht. Hier wiege ich das Essen ab und kann die Menge an Kohlenhydraten exakt berechnen. Über eine Spritze, die viel mehr aussieht wie ein Kugelschreiber, injiziere ich mir das Insulin in das Unterhautfettgewebe meines Bauches. Da die Nadel sehr dünn und klein ist, spüre ich meist nicht mehr als ein leichtes Piksen. Über einen kleinen runden Sensor an meinem Arm, der über eine feine Nadel permanent die Glukosewerte speichert, messe ich dann meinen Blutzucker. Halte ich ein kleines Lesegerät daran, zeigt es mir den Wert sofort an.

In der Öffentlichkeit sieht das ganze etwas anders aus. Zum einen ist da die Öffentlichkeit an sich, die mich vor Herausforderungen stellt. Ich weigere mich zwar, auf Toilette zu gehen, nur um mir die Spritze zu setzen. Aber natürlich spüre ich die teils neugierigen, teils irritierten Blicke, die mich gelegentlich treffen. Zudem kann ich beispielsweise im Restaurant mein Essen nicht mal eben schnell abwiegen. Den Kohlenhydratanteil schätze ich dann einfach. Das gelingt mal überraschend gut, mal liege ich völlig daneben.

Doch wenn meine Blutzuckerwerte heute nach einer Mahlzeit erhöht sind, überfällt mich keine Panik mehr vor den potenziellen Folgeerkrankungen. Habe ich eine Unterzuckerung, ist das immer noch kein angenehmes Erlebnis. Ich schwitze, zittere und sobald sich meine Werte wieder stabilisiert haben, fühle ich mich, als hätte jegliche Energie meinen Körper verlassen. Aber diese Dinge sind jetzt nun mal Teil meines Lebens.

Die Krankheit weist mich in meine Schranken und zeigt, dass mein Körper nicht unverwundbar ist.

So wie auch die eigene Endlichkeit Teil meines Lebens geworden ist. Zwar wissen wir alle, dass wir irgendwann sterben müssen. Jedoch ist der eigene Tod ein Aspekt des Lebens, den wir uns nur ungern ins Bewusstsein rufen. Genau dazu zwingt mich die Krankheit. Sie weist mich in meine Schranken und zeigt, dass mein Körper nicht unverwundbar ist. Sie verwandelt die eigene Endlichkeit von etwas Abstraktem und weit Entferntem zu etwas Greifbarem.

Ganz akzeptiert habe ich die Krankheit nach zwei Jahren allerdings noch immer nicht. Zwar messe ich ständig meinen Blutzucker, spritze mir Insulin, achte auf gesunde Ernährung. Andererseits gehe ich immer noch feiern, trinke Alkohol, rauche. Auch wenn ich mir damit selbst schade, ist es meine Art und Weise, mir das Leben nicht von einer Krankheit diktieren zu lassen.

Einer Krankheit, die so ambivalent ist, wie mein eigener Umgang mit ihr. Denn auf der einen Seite fühle ich mich ja gesund, Beschwerden habe ich kaum. Andererseits erinnert mich jede Mahlzeit, jede Nadel, die ich aufsetzen muss, daran, dass mein Körper nicht so funktioniert wie er sollte.

Wenn nach einer durchzechten Nacht meine Füße anfangen zu kribbeln – ein erstes Warnsignal für Nervenschäden –, schiebe ich es auf das viele Tanzen, anstatt eine*n Neurolog*in aufzusuchen. Ich bin krank und werde es wohl für immer sein. Das weiß ich. Gleichzeitig schaffe ich es noch nicht, mein altes Leben ganz loslassen. Ein unbeschwerteres Leben, in dem die eigene Endlichkeit noch etwas Abstraktes und der Körper noch diese unbezwingbare Festung war – oder sich zumindest noch so anfühlte.

Solltest du selbst an Diabetes erkrankt sein und Hilfe benötigen, findest du unter folgenden Websites nützliche Infos:

  • https://www.diabetesde.org
  • http://www.bund-diabetischer-kinder.de
  • https://menschen-mit-diabetes.de
  • www.deutsche-diabetes-gesellschaft.de