Ein Jahr ist es her, seit mein Freund und ich unseren Bulli am Hafen von Seattle abgeholt haben, um ihn nach Südamerika zu fahren. Diese Zeilen schreibe ich nach 25.000 Kilometern Fahrt aus Nicaragua. Ungefähr genauso viel haben wir auch noch vor uns, wenn wir irgendwann in Patagonien ankommen wollen. Daheim in der Schweiz wartet nichts auf uns: Die Jobs haben wir gekündigt, Wohnung und Möbel abgegeben.

Als wir diese Reise planten, war der Trend-Hashtag #vanlife in den USA bereits ziemlich groß. Mittlerweile kennt ihn jede*r. Vanlife steht für: Freiheit genießen, Fahrtwind im Gesicht. Bleiben, wenn es einem gefällt, weiterfahren, wenn nicht. In unberührter Natur oder direkt am Strand übernachten. Die Fotos auf Instagram befeuern diesen Traum vom unabhängigen Leben. Aber ist #vanlife wirklich so grandios, wie es dargestellt wird?

Schlafen auf Parkplätzen

#Vanlife ist oft mehr #parkinglotlife als sonst was. Es gibt sie natürlich, die wunderschönen Schlafplätze direkt am karibischen Strand oder alleine im Wald. Aber sicher nicht nur. Wir schlafen mindestens die Hälfte der Nächte auf Parkplätzen. In den USA auf jenen von Walmart, in Mexiko an der Tankstelle, in Mittelamerika vor Hostels und Hotels. Diese Fotos sieht man auf Social Media eher selten, aber Menschen, die im Van leben und reisen werden das bestätigen.

Rare Privatsphäre

Ich liebte es, nackt in der Wohnung herumzurennen. Das ist im Bulli definitiv nicht mehr möglich. Und wenn man meint, gerade unbeobachtet sein Shirt wechseln zu wollen, fährt mit Sicherheit eine Teenage-Fahrradgang vorbei und startet ein Pfeifkonzert. Privatsphäre ist unterwegs ohnehin ein rares Gut. Nicht unbedingt, weil man ständig den Freund dabei hat – an den gewöhnt man sich.

Einsame Momente gibt es selten, man kann sich all den Menschen fast gar nicht entziehen, wenn man so unterwegs ist. Wenn du Ruhe suchst, dann bleib weg von Mexiko und Mittelamerika. Reggaeton und Mariachis begleiten eine*n hier rund um die Uhr. Irgendein*e Nachbar*in hat die Lautsprecher immer voll aufgedreht. Und wenn nicht, dann lassen sie das Autoradio an, bis die Batterie stirbt. Für diesen Fall hat der*die geübte Latinx aber selbstverständlich eine Ersatzbatterie dabei. Und gerade, als du denkst: "Jetzt ist es endlich vorbei!", geht es in voller Lautstärke weiter.

Lumpig und struppig

Im Bulli leben heißt, einen Großteil seiner Zeit im Freien zu verbringen. Da wird man zwangsläufig schmutziger als jemand, der oder die zwischen Wohnung und Büro pendelt. Gleichzeitig sind die Duschmöglichkeiten viel rarer. Wir haben zwar eine Außendusche, aber die lässt sich nicht benutzen, wenn wir in den engen Seitengassen irgendeines Ortes übernachten.

Eintöniges Essen

Die Kochmöglichkeiten im Bulli sind sehr begrenzt. Man kann zwar alles kochen, was der Gasherd hergibt, aber eben auch nicht mehr. Das kann auf die Dauer etwas eintönig werden. Vor allem, wenn die Bandbreite lokaler Mahlzeiten auch eher begrenzt ist. Mexiko ist kulinarisch ein wahres Paradies – der Rest Zentralamerikas besteht aus Reis mit Bohnen und zur Abwechslung auch gerne Bohnen mit Reis.

Overlander – Menschen, die über Land reisen – fantasieren oft miteinander über Ofengerichte. Uns ging das auch so. Darum haben wir jetzt einen klappbaren Miniofen, der mit jeder Art von Gaskocher funktioniert. Dieser hat uns schon viel Freude gebracht. Endlich wieder richtiges Brot!

Offene Türen

Das sind meine liebsten #vanlife-Fotos: alle Bulli-Türen offen, irgendwo mitten im Wald, die pure Idylle. Was man auf den Bilder nicht sieht, sind die Horden von Moskitos, die es es sich drinnen bereits bequem gemacht haben. Wann immer du also ab jetzt ein Foto auf Instagram siehst, in dem eine solche Szene vorkommt, dann wisse: Die Türen wurden entweder nur für das Foto geöffnet oder die Moskitonetze husch-husch ab- und anmontiert.

Klotz am Bein

Mit dem Bulli unterwegs zu sein, ist, wie wenn man einen Hund in dieser Größe hat. Man muss immer schauen, dass er in Sichtweite ist, sonst könnte Schlimmeres passieren. Es ist schlicht unmöglich, sich zu entspannen, wenn man nicht weiß, ob das Auto sicher ist. Gerade wir mit ausländischem Kennzeichen und einem Bulli, in den man einbrechen kann, ohne irgendwas kaputt machen zu müssen. Das ist uns tatsächlich auch schon passiert.

Kein Urlaub

Wer nur zwei Wochen im Jahr oder übers Wochenende im Bulli unterwegs ist, putzt ihn am Ende schön raus und gut ist. Wenn man ernsthaft darin lebt, muss ständig irgendwas gemacht werden. Zwischen sauber und in Schuss halten, Essen finden und kochen, fahren, Schlafplatz ausfindig machen und regelmäßig Wäsche waschen bleibt nicht sehr viel Zeit für anderes. Gerade, wenn man alle ein, zwei Tage weiterfährt und schnell unterwegs ist. Damit wir Zeit für Hobbys und zum Arbeiten haben, sind wir viel langsamer unterwegs als andere, die wir getroffen haben.

Und jetzt?

Jetzt weißt du, wie das Leben im Bulli wirklich ist. Ob ich in diesem Jahr desillusioniert wurde? Nein, denn sehr oft ist es fantastisch – mit der besten Aussicht, direkt am Strand, mit hüpfenden Delfinen und dem perfekten Sonnenuntergang. Aber eben nicht immer. Und das ist die Erkenntnis, die sich auf jedes vermeintliche Traumleben übertragen lässt. Das Leben hat überall seine Vorzüge und Nachteile. Die Frage, die du dir stellen musst, ist nur: Wo sind die Nachteile für mich persönlich am kleinsten?