Jenseits der Pyrenäen, an der iberischen Mittelmeerküst, liegt das Paradies. Hier gibt es Strände, Kultur, Sonne, wilde Partys und gut gelaunte Menschen. Nachts tanzt man zu aufgedrehtem Base ’n’ Beat, während die Wellen in Sichtweite an die Küste branden, tagsüber flaniert man auf der Les Rambles oder beobachtet im Barrio Gotico, wie junge Leute – Touristen und Einheimische – bei Churros con Chocolate in Diskussionen versunken sind. Das ist Barcelona. Für viele Deutsche und Europäer Traumziel und Symbolstadt eines aufgeklärten, vereinten Europas in zwei Stunden Flugweite.

Zumindest war es das bis zum ersten Oktober. An jenem Tag waren die Straßen voll von Polizisten und Protestierenden. Gummigeschosse flogen, Sitzblockaden wurden aufgelöst und blutende Menschen abtransportiert. An jenem Tag wurde vielen, vor allem jungen Europäern klar: Auch das Paradies hat eine Geschichte.

Barcelona: Politisch wie kaum eine andere Stadt

Die Wahrheit ist: Barcelona, Hauptstadt Kataloniens, ist politisiert wie kaum eine andere Stadt in der EU. Seit Jahren wächst die Zahl derjenigen, die die Unabhängigkeit der Provinz fordern. Sie ziehen zu Hunderttausenden auf die Straße und bilden die längste Menschenkette der Welt, während Spanien um seine Einheit ringt. Viele Europäer reiben sich verdutzt die Augen, denn gefühlt gestern schien alles noch friedlich auf der iberischen Halbinsel. Das Gefühl trügt nicht, denn die Unabhängigkeitsbewegung ist jung.

So jung, dass die Millennials die volle Breitseite des Umbruchs miterlebten, während sie erwachsen wurden. Was macht es aus einer Jugend, wenn sie zwischen Widerstand, Nationalgefühl und Pazifismus aufwächst? Was denkt sie? Ist sie anders als im Rest Europas? Vier Menschen erzählen von sich und Katalonien.

Der Anfang

Wo begann diese Unabhängigkeitsbewegung? Fest steht: Franco, der Diktator, regierte Spanien 36 Jahre lang bis 1975. Genauso lange unterdrückte er alle nicht-kastilischen Kulturen. Kastilien, das war für ihn Spanien. Katalonien gehörte nicht dazu.

Der 22-jährige katalanische KFZ-Mechaniker Oscar Bernal i Fusté sagt: "Nach Francos Tod wurden die Repressionen des Francismus nie richtig aufgearbeitet." Die Art und Weise, wie der Rest Spaniens Katalonien und seine Einwohner behandelt hätten und es immer noch täten, sei unerträglich. "Sie respektieren weder die katalanische Identität noch die Kultur. Die katalanische Sprache wird sowohl im Unterricht als auch im Alltag unterdrückt."

Alegría Solanilla ist 68 Jahre alt und lebt seit mehr als 40 Jahren in Barcelona. Sie sagt: "Nach dem Tod Francos gab es keine Unterdrückung der katalanischen Kultur mehr und alles verlief friedlich." Das sei bis zur Wirtschaftskrise und dem verhinderten Autonomiestatut so gewesen.

Mitte der Nullerjahre beschloss die katalanische Regierung, die Reste der Franco-Diktatur loszuwerden. Ähnlich wie im Baskenland sollte ein Autonomiestatut helfen. Darin enthalten: Mehr Rechte für Katalonien bei Bildung und Verwaltung, aber auch in der Außenpolitik. Ein Volksentscheid und das katalonische wie spanische Parlament bestätigten das Gesetz – doch es trat nie in Kraft. Die konservative Partei Partido Popular (PP) und der heutige Ministerpräsident Mariano Rajoy sahen die Einheit der Nation in Gefahr, zogen vor Gericht – und gewannen.

Als Rajoy und die PP das katalanische Autonomiestatut 2010 kippten, war das der Startschuss der katalanischen Bewegung

Für den Deutsch-Spanier Serxio Munk Sogo, 19, steht fest: "Das Autonomiestatut im Jahr 2010 hätte die spanisch-katalanische Frage klären können, doch nun ist es zu spät." Spanien und Katalonien würden sich auf jeden Fall trennen, sagt der Psychologiestudent.

Die Krise

Die Entscheidung schlägt mitten ein in die spanische Wirtschaftskrise, die das Land seit 2008 erfasst hat. Auch Katalonien leidet, obwohl es die wirtschaftlich reichste Provinz Spaniens ist. Um einander zu unterstützen, gibt es finanzielle Transfers zwischen dem Staat und den einzelnen Regionen, doch der Pakt, der mit dem gescheiterten Autonomiestatut reformiert werden sollte, beschwört Ärger herauf.

Der KFZ-Mechaniker Oscar sagt: "Ökonomisch steht das, was der spanische Staat Katalonien nimmt, in keinem Verhältnis zu dem, was zurückkommt. Weniger Stipendien, höhere Studiengebühren, höhere Arbeitslosigkeit und mangelnde Wirtschaftshilfe aufgrund der Zentralisierung durch 'La Crisis'."

Alegría sieht es etwas anders als Oscar: "Die junge Generation ist in dem Glauben aufgewachsen, dass Spanien sie ausraubt. Die Phrase wurde so häufig ausgerufen und wiederholt, dass es einem zu den Ohren rauskommt." Es heiße, ohne Spanien lebe es sich besser.

Die Proteste

In ganz Katalonien gewinnt die Unabhängigkeitsbewegung danach an Zulauf. Nie zuvor versammelten sich so viele Menschen wie am 11. September, dem katalanischen Nationalfeiertag, um für ihre Region Flagge zu bekennen. Die Zahlen schwanken zwischen 425.000 (El País, eine kastilische Zeitung aus Madrid) und 1,5 Millionen (die Organisatoren). Seitdem nehmen die Aktionen und Manifestationen zu. Früh kristallisiert sich heraus, dass die Veranstaltungen anders sind als viele andere nationalistisch angehauchten Proteste. Denn die Organisatoren rufen zum Pazifismus auf – an den sich alle halten.

Oscar beschreibt es so: "Der katalanische Protest ist immer friedlich gewesen und wird es auch immer bleiben. ‘Som la gente de pau! – Wir sind das Volk des Friedens!’ Das ist der Ruf der Independistas." Die katalanische Bewegung wolle und werde seinen Willen nicht anderen aufzwingen, sagt er.

Der pazifistische Weg der Proteste ist vorbildlich.

Ob das auch auf Regierungsseite gelte, bezweifelt Alegría: "Die katalanische Bewegung ist frei von Gewaltgedanken. Was die spanische Regierung anbelangt, bin ich mir nicht so sicher."

Die Jugend

Zahllose Flaggen wehen mittlerweile von den Balkonen. Auf ihnen prangt ein Stern, der für die Unabhängigkeit steht. Wenn sich die Katalanen versammeln, schmücken die Sterne Gesichter und Fingernägel, und die Sternen-Flagge ist das Superhelden-Cape der Protestierenden. Unter ihnen befinden sich auffällig viele junge Menschen. Serxio sagt: "In den letzten Jahren ist die Nationalbewegung in der Jugend täglich sichtbarer geworden." Sie sei der aktivste Teil der Proteste. "Sie ist die Generation, die mehr Hoffnung denn je hat, dass die Unabhängigkeit tatsächlich erreicht werden kann; ihr Unabhängigkeitswille ist am größten."

Die aus Katalonien stammende 20-jährige Psychologiestudentin Elena Poch beschreibt es so: "In Spanien gibt es gravierende Ungerechtigkeiten. Als Teil der Jugend eines Landes, das so viel Wandel braucht, spüre ich große Verantwortung."

Der Einfluss

Im Landstrich zwischen Frankreich und Valencia wird eine eigene Sprache gesprochen, es gibt die infernale Feuertradition Correfoc, und Kulturbewegungen wie der Katalanische Nationalkongress (ANC) üben großen Einfluss aus. Kultur ist der Antrieb der Independentistas und der Boden der Unabhängigkeitsbewegung. Doch wo Kultur zum Kampfwort wird, ist der Weg zu den Bildungseinrichtungen und zur neuen Generation nicht mehr weit. Alegría sieht das kritisch: "Die ANC hat ganze Arbeit geleistet." Sie habe ihre Propaganda Stück für Stück in sämtliche Bereiche der Gesellschaft einsickern lassen, besonders in die Schulen und Unis. "Dort verfälschen sie sogar den Geschichtsunterricht im katalanischen Sinne. Fast alle jungen Katalanen sind deswegen für die Unabhängigkeit."

Das sieht die 20-jährige Elena ähnlich, schränkt aber ein: "Die Jugend ist schon geprägt von Gesellschaften wie der ANC, doch es kommt auch viel auf die Herkunft an." Es hänge davon ab, wie sich die Familie sehe: eher spanisch oder eher katalanisch. "Das verändert die Meinung junger Menschen stark."

Der Rassismus

Wo es eine Bewegung gibt, gibt es auch eine Gegenbewegung. Das hat fast etwas von einem physikalischen Grundprinzip. In diesem Fall bedeutet das: Wo es eine katalanische Nationalisierung gibt, da muss zwangsläufig eine spanische entstehen und die Abgrenzung wachsen. Zwar ist die katalanische Bewegung friedlich, doch reicht das, um etwas an dieser sozialen Gesetzmäßigkeit zu ändern? Serxio sagt: "Zwischen jungen Spaniern und Katalanen gibt es heutzutage Konflikte, ja, aber meistens unter den Radikalen beider Gruppen. Im Idealfall reden Befürworter und Gegner der Abspaltung Kataloniens in einer ganz normalen Diskussion friedlich miteinander."

Elena sagt: "Es gibt Abneigungen, aber nur unter Leuten, die nicht viel vom Thema wissen. Ich glaube eher, dass die Feindseligkeit der Independentistas gegenüber Spanien größer ist als die, die die Spanier gegenüber den Katalanen spüren."

Oscar glaubt, dass das Gros der Spanier*innen gut mit den Katalan*innen auskommt. "Doch aufgrund der Berichterstattung einiger Medien wächst die Zahl der Menschen rapide, die einen innigen Hass gegen alles Katalanische haben." Sie applaudierten der Polizeigewalt. "Sie diffamieren dich, sobald sie wissen, dass du Katalane bist – egal ob du nun für oder gegen die Unabhängigkeit bist."

Am Ende wird uns dieser Konflikt alle in die Scheiße reiten, denn in Spanien sind die Rechten auf dem Vormarsch, angetrieben durch diesen Patriotismus.

Der 1. Oktober

Anfang Oktober 2017 entlädt sich die Spannung, die sich über sieben Jahre hinweg aufgebaut hat. Die Heimat Gaudís, die Sagrada Familía, die Costa del Sol und ein Partyort namens Lloret del Mar werden Zeuge eines im modernen Europa einmaligen Ereignisses: Die Bürger Kataloniens entscheiden über ihre Unabhängigkeit, doch das Referendum ist illegal – sagt der spanische Staat. Gemäß der Justiz und der Verfassung ist er im Recht und schickt Tausende Polizisten in die nordöstliche Provinz. Ihre Aufgabe: das verhindern, was Kataloniens Regierung und Millionen Bürger durchführen wollen. Der Konflikt ist vorprogrammiert. Wahllokale werden blockiert, Proteste gewaltsam von der Guardia Civil niedergeknüppelt, und Politik wird auf einmal so blutig wie lange nicht mehr in der EU.

Oscar schätzt die Lage so ein: "Die Ereignisse vom ersten Oktober für sich: Spanien unterdrückt Katalonien. Das Fass ist endgültig übergelaufen. Wir werden weder vergeben noch vergessen."

Die geschlagenen Wunden seien kaum heilbar, sagt Serxio. "An das gewaltige Polizeiaufgebot und die zahlreichen Verletzten werden sich die Katalanen noch lange erinnern." Das sei das Resultat miesen Managements und schlechter Kommunikation auf beiden Seiten, sagt er.

Elena befürchtet, dass der von der spanischen Regierung eingeschlagene Weg zu mehr Gewalt führen werde und sich alles weiter radikalisieren werde. "Ich hoffe, die Verantwortlichen beider Seiten zahlen für ihre Fehler und lösen das friedlich."

"Niemals hätte ich mir träumen lassen, dass die Regierung so dämlich und kurzsichtig ist", sagt Alegría. Sie habe in Kauf genommen, dass es Verletzte gibt und die gesamte Gesellschaft beleidigt. "Wir steuern trotzdem nicht auf einen Bürgerkrieg zu, schließlich sind wir in der EU", sagt sie.

Eine ungewisse Zukunft

Rund zweieinhalb Millionen Menschen wählen trotzdem. Das Ergebnis zugunsten der Unabhängigkeit ist eindeutig. Doch was nun? Spanien und Katalonien stehen wortwörtlich am Scheideweg, und quasi täglich wird mit der einseitigen Unabhängigkeitserklärung gerechnet. Die Fronten sind verhärtet, die Gemüter erhitzt und für die Jugend können die nächsten Tage ihr ganzes zukünftiges Leben bestimmen. Wie geht man damit um?

Elena wünscht sich endlich ein ordentliches, faires Referendum. "Bis dahin werde ich mich gegen all die ungerechte Polizeigewalt einsetzen und hoffen, dass sich die Situation wieder normalisiert."

Serxio glaubt, dass es zu noch mehr Gewalt kommen könne. "Alles hängt davon ab, ob spanische und katalanische Parteien zu einer Einigung kommen oder nicht." Er schenke jedoch keiner Seite alleine Glauben. "Deswegen informiere ich mich über katalanische wie spanische Medien."

Oscar weiß, was er in den kommenden Tag machen wird: "Ich werde an jeder Kundgebung, jedem Protest und jeder Manifestation für die Unabhängigkeit teilnehmen. Jede dieser Aktionen ist eine Stimme für die Menschenrechte", sagt er.