Man frage eine*n Pescetarier*in, Vegetarier*in oder Veganer*in: Würdest du ein Huhn essen, wenn dies das Leben eines anderen Huhns retten würde - und andernfalls beide Hühner sterben würden? Oder würdest du dich weigern? Eine perfide Frage, dachte ich, als ich sie mir das erste Mal stellte. Im vergangenen Jahr hatte ich noch aus ökologischen und ethischen Gründen auf Fleisch und Tierprodukte verzichtet. Sieben Monate lang lebte ich vegan und sieben Monate lang fragte mich meine Verwandtschaft befangen, ob ich denn nicht an Mangelerscheinungen litt. Sogar meine Ombré-gefärbten Haare waren Grund zur Schnappatmung: "Kind, was ist mit deinen Haaren los! Kommt das vom vegan sein?"

Ihre Erleichterung war kaum zu übersehen, als ich schließlich wieder Pescetarierin war. Grund dafür waren ein entzündeter Darm und eine abgeschwächte Version eines Syndroms, das es mir schwer machte, ballaststoffreiche Nahrung aufzunehmen. Sobald ich Linsen, Bohnen und Vollkorn aß, bekam ich Magenkrämpfe und Schmerzen, ein Ultraschall stellte schnell fest, dass mit meinem Darm etwas im Argen lag. Auch mein Stuhlgang wurde beunruhigend farblos. Mein Darm verlor seinen Charme. Und da mir bewusst war, dass dieses unterschätzte Organ ernstzunehmende Körperzeichen aussendet, entschied ich mich dazu, meine vegane Reise vorerst zu beenden. Ich kehrte also zum Pescetarismus zurück, einer Ernährungsweise, die Fleisch ausschließt, Fisch jedoch erlaubt.

Wie zu erwarten, wurde dieser Schritt nicht nur positiv aufgenommen. Erneut diagnostizierte man bei mir Mangelerscheinungen, diesmal in der Intelligenz. Von Seiten der Veganer*innen häufte sich der Vorwurf, dass ich schlichtweg Fehler in meiner Ernährung gemacht hätte. Die Vorstellung, dass eine sogenannte Wholefood-Diät negative gesundheitliche Folgen haben könnte, erschien vielen absurd. Nein, ich war nicht über Nacht nach einem traumatischen PETA-Küken-Schredder-Video auf Facebook zum Veganismus konvertiert, sondern hatte mich wochenlang auf die Umstellung vorbereitet. Mit Leichtsinn hatte das Scheitern nichts zu tun. Doch jenseits von B-Vitaminen und anderen Nähr- und Vitalstoffen kann es eben noch eine weitere Hürde geben, die von Person zu Person variiert: der eigene Körper.

Kein Platz für Individualität

Da hatten wir also den Salat. Wortwörtlich. Was mich am meisten fertig machte: Die Vorstellung, wie andere nun über mich denken würden, nachdem ich ihnen mit brennender Leidenschaft versichert hatte, dass Veganismus der richtige Weg für mich sei. Wie sich herausstellte, war dies ethisch der Fall, gesundheitlich weniger. Ich sollte zu den wenigen Menschen gehören, die ironischerweise die ach so gesunden Ballaststoffe nicht vertragen. Mein Körper verlangt nach einfachen Kohlenhydraten wie weißem Reis – und das nicht nur, weil ich asiatischer Herkunft bin.

Es bleibt kaum Platz für unsere Individualität, einen individuellen Körper mit individuellen Mängeln."

Natürlich bestätigten sich meine Befürchtungen, ich bekam Vorwürfe diverser Art. Wie zu erwarten war. Fast jede*r hat mittlerweile zum Thema Ernährung eine Überzeugung und jede*r meint zu glauben, es am besten zu wissen. Kaum kommt es im Gespräch auf, kribbeln unsere Finger, bereit, auf eine Person zu zeigen und sie – wenn auch mit freundlicher Absicht – zu belehren. Und ich wähle bewusst den Begriff der Überzeugung anstelle von Meinung, da sie eine Leidenschaft besitzt, die insbesondere das Thema der Ernährung umfasst. So sehr, dass Medien von unserer Kost als Religionsersatz sprechen und die Art und Weise, wie wir uns ernähren, als Statement und Schublade fungiert.

Es bleibt kaum Platz für unsere Individualität, einen individuellen Körper mit individuellen Mängeln. Stattdessen führt das schlechte Gewissen die Agenda an. Ein Zwang, der aufruft, sich einzugliedern, einer Position zuzuordnen und diese konsistent durchzuziehen. Ausreißer*innen wie ich passen nicht rein, man ist Heuchler*in, Uninformierte*r, Egoman*in, wenn man an seiner Ernährungsrichtung scheitert. All das habe ich schon gehört.

Die Vorherrschaft des schlechten Gewissens

Tatsächlich fiel mir der Schritt vom Veganismus zurück zum Pescetarismus viel schwerer, als der Beginn meiner veganen Reise. Mich plagte die Vorstellung, dass mein Beispiel den Vorbehalt gegenüber veganer Gesundheit nähren würde. Auch nagte das schlechte Gewissen an mir. Also gerade der Faktor, der mich überhaupt in den Veganismus gebracht hatte. Vielleicht ist dies auch das Groteske an unserer heutigen Zeit: dass unsere Leidenschaft sich meist durch das Leiden auszeichnet.

Du hast keinen Sixpack? Geh ins Fitness Studio. Du willst Erfolg? Arbeite hart, mach Überstunden, konzentriere dich auf den Job – Leidenschaft erfordert Aufopferung!"

Das schlechte Gewissen scheint viele unserer modernen Lifestyles anzutreiben. Wir befinden uns im Leistungswettbewerb, machen rationale Zugeständnisse, um andere Privilegien zu ergattern. Selbst ein so aufrichtiger Lebensstil wie der Minimalismus artet in einigen Fällen in einen Wettbewerb aus. Wer lebt den ästhetischsten Minimalismus, wer den moralischsten? Unser Körper wird als Maschine gedacht, an derer Effizienz wir schrauben, wie Michel Foucault einst bemerkte.

Das Mängelexemplar Individuum hat hier keinen Platz. Ein solches Selbstverständnis wirkt sich auf unseren Lebensstil aus. Wir verklären diese Zwänge als Fleiß und verwechseln unser Burn-out mit Ehrgeiz. Denn wenn nichts unmöglich ist, ist alles Unmögliche die eigene Schuld. Du hast keinen Sixpack? Geh ins Fitness Studio. Du willst Erfolg? Arbeite hart, mach Überstunden, konzentriere dich auf den Job – Leidenschaft erfordert Aufopferung!

Mich erschreckt immer wieder diese florierende Gebots- und Verbotskultur, in der wir uns befinden und in welcher der individuelle Kontext und die Relativität einiger Tatsachen ignoriert werden. Hier geht es um einen Egotrip, der Perfektion über Reflektion priorisiert.

Selbstoptimierung als Mittel der Selbstbestätigung

Gehen wir zurück zu der Hühnerfrage, die ich zu Beginn erwähnte und stellen wir uns vor, wir beantworten sie wie folgt: "Ich werde niemals ein Huhn essen. Egal wie die Umstände sind. Das geht gegen meine Prinzipien." Würden wir an dieser Stelle nicht unsere eigentliche Priorität verdrängen, nämlich jene, möglichst viele Leben zu retten – auch wenn dies das Leben eines anderen Huhns erfordert?

Die Ernährung als bedingungslose Ersatzreligion scheint in diesem Fall weniger mit der Liebe zum Tier zu tun zu haben als mit dem Versuch, uns selbst zu bereinigen und weiterhin in den Mittelpunkt zu stellen. Man ist so stolz auf sein Clean Eating, dass man die passenden Schnappschüsse vom Essen mit dem entsprechenden Hashtag auf Instagram posten muss.

Die Ernährung als bedingungslose Ersatzreligion scheint in diesem Fall weniger mit der Liebe zum Tier zu tun zu haben als mit dem Versuch, uns selbst zu bereinigen.“

Der Haken: Die Selbstfixierung macht uns blind gegenüber übergeordneter Machtmechanismen. Wir denken, dass wir frei handeln würden, obwohl uns in Wahrheit unser schlechtes Gewissen und der Optimierungskult um uns selbst umtreibt.

In der Moral gibt es keine Hierarchie

Im Grunde ist es doch ganz einfach. Jede*r will glauben, dass er*sie ein guter Mensch ist, und das ist auch gar nicht verkehrt. Dennoch müssen wir uns darüber bewusst werden, dass dies keine Superlative erfordert, auch nicht für die Moral. So plädiert auch Richard David Precht dafür, "aus diesem Heiligkeitskult um sich selbst auszubrechen". Im Interview mit der taz bemerkt der Philosoph: "Ich habe den Eindruck, dass viele Menschen, die in diesem Diskurs moralisieren, sich über Moral wenig Gedanken gemacht haben, also über das, was Moral überhaupt ist. In der Moral geht es nicht darum, dass man selber der beste Mensch wird, sondern unter dem Strich möglichst viel Gutes zu erreichen."

Das bedeutet auch, dass wir mit selbstzerstörerischem Ehrgeiz und negativer Energie kaum Positives bewirken können. Und überhaupt: Wer sagt, dass es in der Moral eine Hierarchie gibt, ein besseres Gut-sein? Liegt in der Imperfektion nicht das Streben und im Streben nicht die eigentliche Moral? Vielleicht sollten wir aufhören, uns Etiketten überzustreifen, an denen unsere Performanz zu messen ist, und uns nicht mehr als Fleischesser*in, Pescetarier*in oder Veganer*in vorstellen. Schließlich bin ich mehr als meine Ernährungsweise, eine Summe vieler Dinge, die ich auf der Reise meines Lebens immer wieder neu dazulerne.

Vielleicht ist die Moral ja auch ein Yin und Yang, die Möglichkeit, in der Verfehlung das Potenzial zu erkennen, und der Glaube an Perfektion ein eitler Irrtum. Denn fest steht: Der Ernährungswahn ist in Wahrheit ein Perfektionswahn – und das hat mit Gesundheit und Ethik genauso wenig zu tun, wie ein kaputter Darm mit moralischer Erleuchtung.