Es rattert auf dem Asphalt. Auf dem Campus des Karlsruher Institut für Technologie (KIT) führt ein hellblonder Student mit Blindenabzeichen seinen Stock über den Boden. Klack, klack, klack. Andere drehen sich nach dem Geräusch um, während Max Kordel mich zu einem seiner Hörsäle führt. Er benötigt den Langstock zur Orientierung, denn er hat nur noch zwei Prozent Sehfähigkeit. Max ist einer von 35 sehgeschädigten Student*innen am KIT unter mehr als 20.000 Immatrikulierten und der einzige Sehgeschädigte in der Chemiefakultät.

Das Chemiegebäude, in dem sich einer von Max Hörsälen befindet, besteht aus mehreren Komplexen. Das macht den Weg dorthin nicht einfach. Wir gehen durch fünf Türen und müssen eine Treppe hoch. Die Treppe berührt den Boden nur an den unteren Stufen und steht dann frei im Raum. Sehbehinderte Student*innen können solche Treppen nur an der untersten Stufe ertasten. Nähern sie sich ihnen aus einer anderen Richtung, können sie sich an den freistehenden Stufen die Kopf stoßen. Das hat beim Bau scheinbar niemand bedacht.

Im Unterrichtsraum angekommen sehe ich die Tafeln, vor denen ein langes gefliestes Pult mit Wasser- und Gashähnen steht. Davor befinden sich auf einer nach hinten aufsteigenden Plattform die Sitzplätze für die Student*innen. Max Kordel zählt die Stufen bis zu seinem Platz. Mit einem roten Aufkleber ist hier markiert, dass der Sitz für Studierende mit Sehbehinderung freigehalten werden soll.

"Man muss einfach miteinander sprechen"

Bunsenbrenner, Chemikalien, Gas – Chemiestudium mit Sehbehinderung klingt erst mal gefährlich. "Bis vor zwei Jahren habe ich noch ein bisschen mehr gesehen, da sind dann die Praktika einfach in Zweier-Gruppen gemacht worden", erzählt Max. "Je nach Praktikum lief es dann darauf hinaus, dass ich für den Papierkram zuständig war und die Glasapparaturen aufgebaut habe", sagt der Masterstudent. So konnte er in seinen viereinhalb Jahren am KIT Risiken umgehen. Für blinde Studierende können zudem Assistenzen die Versuche übernehmen. Dann diktiert der sehgeschädigte Student den Ablauf.

"Man muss einfach miteinander sprechen," erklärt Professor Rainer Stiefelhagen. Er ist Leiter des Studienzentrums für Sehgeschädigte (SZS) am KIT. Kommunikation sei eine der Schlüsselkompetenzen für ein erfolgreiches Studium mit Sehbehinderung. "Was wir den blinden und sehbehinderten Studierenden immer sagen, wenn sie zu uns herkommen ist: Sprecht selbst mit euren Dozenten, am besten vorher, sagt 'Hallo, ich sehe ganz schlecht' und dann können die sich darauf einstellen."

Rainer Stiefelhagen und seine acht Mitarbeiter*innen sind für barrierefreies Studieren an der Universität zuständig. Sie unterstützen die Student*innen aktiv durch Aufbereitung der Übungsblätter, Klausuren und Lesematerialien. "Manchmal gibt es so Spezialprobleme, zum Beispiel, wenn man in der Informatik Programmieraufgaben abgeben muss und es dann eine spezielle Programmierumgebung gibt, dann kann das unter Umständen schwierig sein. Da versuchen wir zu unterstützen und auch gemeinsam Lösungen zu finden", so Rainer Stiefelhagen.

Mithilfe von 3D-Druckern können sich auch Blinde Strukturen vorstellen

Das Karlsruher Institut unterstützt seit 30 Jahren sehgeschädigte Student*innen durch Forschung und Betreuung. Seit 1992 gibt es das SZS. Im Gebäude sind die technischen Entwicklungen der vergangenen Jahre offensichtlich. Neben großen, älteren Braille-Zeilen, also Lesehilfen für den Computer, finden sich moderne, kompakte Apparate für denselben Gebrauch. Sehbehinderte Student*innen können Unterrichtsmaterialien mithilfe von Vergrößerungsmaschinen lesen.

Blinde Studierende erhalten Ausdrucke eines taktilen Druckers. Dieser stanzt Brailleschrift und Muster zum Beispiel für die Darstellung von Diagrammen in das Papier, sodass das Abgebildete ertastet werden kann. Ein 3D-Drucker erstellt Abbildungen von Molekülen, geometrischen Formen und einen Stadtplan von Karlsruhe als Orientierungshilfe für die Student*innen. Sie können dann fühlen, was andere sehen, um einen Eindruck von Formen, Abständen und Verknüpfungen zu bekommen. Max Kordel nutzt außerdem ein Sprachprogramm seines Computers, um während der Vorlesung Unterrichtsmaterial mitverfolgen zu können, das ihm von der Software vorgelesen wird.

Neben Karlsruhe sind Düsseldorf und vor allem Marburg dafür bekannt, sich für Studierende mit Sehbehinderung einzusetzen. "Marburg ist die Blindenhauptstadt Deutschlands", sagt Simone Henzler, Projektleiterin des Deutschen Blindenhilfswerks. Die Stadt bietet neben einer Schule für Braille und Mobilitätstechniken auch Leseräume für Sehbehinderte an der Universität, Menükarten in Restaurants auf Braille und sprechende Aufzüge. "Es gibt aber auch sehgeschädigte Menschen, die sagen, ich will nicht nach Marburg, ich will nicht in diese Blase", sagt Simone Henzel. Doch für viele sei es eine Erleichterung, barrierefrei leben zu können.

Vorbild Australien

Karlsruhe und Marburg zeigen, dass Barrierefreiheit und Integration funktionieren können. Doch noch sind sie die Ausnahmen, nicht die Regel. "Es gibt an einigen Unis Zentren, die Barrierefreiheit organisieren, wie das KIT. Aber das ist nicht üblich", sagt Christiane Möller, Rechtsreferentin des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband (DBSV). Es gebe keinen einheitlichen Ansatz in Deutschland. Stattdessen herrsche Behördenchaos.

Christiane Möller erklärt, dass die ersten zwei Semester häufig für die Organisation geopfert werden müssen. Es gebe einen Kampf um Hilfsmittel und Assistenzstunden. Denn wenn die Universitäten nicht selbst Hilfestellung für Sehgeschädigte geben, müssen die Student*innen auf Unterstützung von außen zurückgreifen, damit der Laborversuch oder die Materialbeschaffung funktioniert. "Es dauert oft sehr lang, bis Hilfen zur Verfügung stehen, obwohl es gesetzliche Vorgaben zur Verkürzung gibt. Das bringt ganze Studienabläufe durcheinander und ist gerade im Bachelor- und Master-System ein Problem."

Christiane Möller kennt das Problem aus eigener Erfahrung. Wie es besser geht, hat sie während ihres Studienaufenthalts in Australien erlebt. "Das war ein ganz anderes Studieren, da man sich um nichts kümmern müssen. Keinen Behördenkrieg zu haben war gut", erzählt sie. In Australien regelt die Universität die Vergabe der Hilfsmittel und die Organisation des Studiums für die sehbehinderten Student*innen.

Dozent*innen sind hilfsbereit, müssen aber erinnert werden

Ganz überzeugt ist Christiane Möller aber auch von diesem System nicht. In Deutschland haben sehbehinderte Student*innen einen Rechtsanspruch auf Hilfsmittel vom Staat. In Australien kommt die Finanzierung jedoch von Sponsoren, ein Rechtsanspruch besteht nicht. "Die Vorstellung, von Almosen abhängig zu sein, fand ich nicht prickelnd", kritisiert Christiane Möller.

Max Kordel, der Chemiestudent aus Karlsruhe, will als nächstes seinen Masterabschluss schaffen. Schon jetzt denkt er über eine mögliche Promotion im Anschluss nach. Für diesen Weg wünscht er sich mehr Unterstützung durch das Lehrpersonal. "Für mich ist es wichtig, dass sie zum Beispiel daran denken, Grafisches zu beschreiben", sagt er. Denn häufig seien Dozent*innen zu Beginn sehr hilfsbereit, vergessen dann aber im Laufe des Semesters den sehgeschädigten Studenten im Hörsaal. "Man sollte als Dozent versuchen, sich in einen blinden Studierenden hineinzuversetzen,", sagt Rainer Stiefelhagen. "Wenn man etwas zeigt, sehen das alle Sehenden, aber der Blinde sieht es halt nicht. Das heißt, man muss es einfach beschreiben."