Gut vierzig Jahre nach dem zweiten Weltkrieg wurde ich in die untergehende DDR geboren: Vater Pole, Mutter Deutsche. Ein Jahr später floh sie mit mir nach Westdeutschland. Einige Wochen saßen wir in einem Flüchtlingslager, in dem heute Syrer und Eriträer auf ihre Genehmigung warten.

Die Mauer fiel, genau wie die Schlagbäume in Europa. Heute pendle ich regelmäßig zwischen Warschau und Leipzig, meine Mutter arbeitet als Deutschlehrerin mal in Sofia, mal in Madrid. Ich habe Freunde in Barcelona, Brüssel und Tallinn.

Kurz gesagt: Meine Heimat heißt Europa.

Ich frage mich: Was zur Hölle ist hier los?

Aber ich verstehe meine Heimat nicht mehr. Millionen meiner Miteuropäer*innen wählen Parteien, die nationale Abschottung und die Unterdrückung religiöser Minderheiten propagieren, restriktive Grenzregime inklusive Schießbefehle und die Separierung von Völkern und Kulturen nach Staatszugehörigkeit unterstützen.

Das gleich vorweg: Natürlich ist Europa nicht perfekt und das Monstrum von technokratischer Monsterinstitutionen namens EU erst recht nicht. Winston Churchills würde vielleicht sagen: die EU ist die schlechteste aller Regierungsformen – abgesehen von all denen, die von Zeit zu Zeit ausprobiert wurden.

Ja, die nationalen Grenzen versprechen die Ruhe und Geborgenheit einer Kleingartensiedlung. Wir machen es uns hinter einem Zaun gemütlich und hoffen, der Rest der Welt ließe uns mit seinen Problemen in Ruhe. Diese Vorstellung ist naiv. In der Realität würde es heute den finanziellen Ruin der europäischen und somit auch der nationalen Wirtschaften bedeuten.

Wirtschaft ohne Union?

Wie genau sollen Länder allein auf einem globalisierten Markt bestehen? Sie hätten ungefähr die Verhandlungsposition einer Gewerkschaft, die aus drei Mitarbeitern besteht. Insbesondere, wenn sie wie Deutschland vom Handel abhängig sind. Die Hälfte des deutschen Bruttoinlandsprodukt wird durch den Export erwirtschaftet. Ein deutsches Auto kann ohne EU und Euro gar nicht mehr produziert werden. Und leisten könnte es sich inklusive nationalen Schutzzöllen auch niemand mehr.

Ich verstehe, dass Armutsgefälle, Leiharbeit und soziale Undurchlässigkeit Probleme sind. Die europäische Integration ist jedoch weder Schuld daran, noch kann "weniger Europa" und mehr Nation diese Probleme lindern. Es bedarf gerade dafür einer gemeinsamen Ordnung, die allen nützt. Nationale Egoismen hingegen führen die zu einem Wettbewerb der billigsten Arbeitskräfte.

Front National, AfD und PiS wollen (ihre eigenen) Kulturen schützen. Wovor eigentlich? In meiner letzten WG in Warschau lebten ein Pole, eine Ukrainerin, ein Kasache und ein Spanier zusammen. Zu Partys kamen ein Dutzend Nationalitäten zusammen. Jeder brachte dann seine Landesspezialitäten mit, wir lernten ein paar Brocken der jeweiligen Sprache und freuten uns über neuen Input. Ein Selbstbewusster Mensch wächst daran, anstatt sich bedroht zu fühlen.

"Weniger Europa" hilft keinem

So mancher AfDler schwadroniert derweil von "raum- und kulturfremden Menschen" (also Menschen anderer Hautfarbe) und von unserer "Werte-Gemeinschaft". Was soll das eigentlich sein? Mein Kumpel Mohammad aus Ägypten ist Atheist und liberaler Literaturliebhaber. Mit dem teile ich definitiv mehr Werte als mit meiner Mitleipzigerin Frauke Petry.

Ich habe es versucht, die Ängste dieser Menschen vor dem Fremden ernst zu nehmen. Mit Empathie und Argumenten. Doch ich stoße an Grenzen. Die "Vordenker" der neuen Rechten kriegen mitunter keinen geraden deutschen Satz zusammen und wollen meine Kultur schützen? Nein, Danke.

Wie ihr Schutz aussieht, durfte ich übrigens auch am eigenen Leib erfahren. Bei einer Legida-Demo im Februar 2015 jagten fünfzig Thor-Steinar-Primaten mich und zwei Dutzend Kollegen über den Leipziger Ring. Die besorgten Bürger standen dahinter und johlten.

Nationalismus hat historisch versagt

Es gibt gute Gründe, Europa in seiner jetzigen Form zu kritisieren. Ein offener Diskurs darüber, wie wir den Kontinent und die EU verändern können, wäre wichtig. Dem Nationalismus fehlen aber die Argumente. Er hat bereits vielfach versagt.

Oder wie mein Kumpel Wojtek vor einiger Zeit bei einem Bier konstatierte: "Mein Opa starb in Auschwitz, deiner war in der SS. Und nun sind wir Freunde und können ohne Pass von Warschau nach Lissabon fahren. Was für ein Wunder!"