Wer auf Festen früh geht, gilt häufig als unsozial. Dabei können manche Menschen einfach weniger lang in Gesellschaft sein als andere – wie unsere Autorin. Soll man sich damit abfinden oder an sich arbeiten? 

Noch etwa zwei Meter bis zur Tür. Fast geschafft. Nervös werfe ich einen schnellen Blick zurück zu meinen Freunden. Der eine Teil zerlegt gerade mit Tanz-Moves das Wohnzimmer, der andere zischt in der Küche eine Runde Pfeffi-Likör. Perfekt. Die Luft ist rein. Unauffällig schlüpfe ich aus der Wohnung. Später werde ich sagen, dass ich sehr wohl Tschüss gesagt habe. Es seien nur alle schon so betrunken gewesen, dass sich keiner mehr daran erinnere.

Ich, der unsoziale Freak

Ich bin nicht stolz darauf, dass ich mich auf Partys regelmäßig heimlich aus dem Staub mache. Das Problem ist nur, dass wenn ich versuche, mich zu erklären, die Gespräche immer so ablaufen:

"Wie, du gehst schon?"

"Ja, ich glaub, es reicht mir für heute."

"Jetzt komm, bleib doch noch."

"Ne du, sorry, mir ist das gerade zu viel, ich brauch jetzt meine Ruhe. Nicht falsch verstehen. Hat nichts mit euch zu tun."

"Aber es ist doch noch so früh!"

Dabei stelle man sich bitte vor, wie mein Gegenüber verdutzt und völlig ungläubig aus der Wäsche guckt. Irgendwann war ich es leid, den Leuten klarzumachen, dass mein Socializing-Bedürfnis eben nicht so ausgeprägt ist wie ihres. Zumal ich mir auch bei jeder Rechtfertigung vorkam wie der letzte Freak: Da geht jemand lieber in seine stille Ein-Zimmer-Wohnung zurück als noch länger mit Freunden abzuhängen – wie unnormal ist das denn, bitte?

Akku leer

Es ist nicht so, dass ich eine Wahl hätte. Wenn mein sozialer Akku leer ist, merke ich, wie mein Nervenkostüm immer dünner wird. Ich fühle mich angespannt, gehetzt, erschöpft. Wenn ich dann nicht die Möglichkeit habe, mich wegzuschleichen, wird es brenzlig. Bei einer Hochzeit neulich habe ich meine innere Stimme ignoriert. Aus Höflichkeit blieb ich brav sitzen und versuchte, die Feier über mich ergehen zu lassen. Irgendwann war ich nervlich so am Ende, dass ich beinahe eine Panik-Attacke gehabt hätte. Alles in mir schrie nach Flucht. Ich hatte das Gefühl ersticken zu müssen, würde ich noch länger bleiben inmitten all dieser Menschen. Also packte ich meine Sachen und stürmte raus. An die Fahrt nach Hause kann ich mich nicht mehr richtig erinnern.

Nicht unsozial: introvertiert

Psychologen bezeichnen Leute wie mich als introvertiert. Introvertierte vertragen nur eine geringe Dosis an sozialer Interaktion. "Wenn die überschritten wird, treten Übersättigungsprozesse ein", sagt der Persönlichkeitspsychologe Jens B. Asendorpf. Zum Vergleich zieht er den Regelkreis eines Thermostats heran. Sobald ein gewisser Wunschwert erreicht ist, pegelt sich die Temperatur dort ein. Damit Introvertierte ihren sozialen Sollwert halten können, müssen sie sich immer wieder Ruhephasen gönnen. "Sie ziehen viel Energie und Zufriedenheit aus dem Alleinsein", erklärt der Psychologe René Träder. "Ihre Aufmerksamkeit ist tendenziell eher nach innen gerichtet. Sie erleben Dinge auch eher innerlich." Introversion sei jedoch keinesfalls gleichbedeutend mit Schüchternheit oder sozialen Ängsten: "Introvertierte können trotzdem gerne unter Menschen sein. Dann mögen sie aber kleinere Gruppen oder Zweiertreffen."

Laut vs. leise

Wie groß der Anteil der Introvertierten in unserer Gesellschaft ist, lässt sich schwer ermitteln. Gefühlt müssten die Extrovertierten deutlich in der Mehrheit sein;  Träder glaubt jedoch an eine ausgewogene Verteilung: "Die Introvertierten nimmt man nur nicht so stark wahr, vielleicht auch, weil sie eben allein zu Hause sind oder unaufgeregte Dinge wie Waldspaziergänge machen."

Andere Wissenschaftler hingegen schätzen ihren Anteil auf ein Drittel. Der Persönlichkeitspsychologe Asendorpf sieht diese Schätzungen generell kritisch: "Die Frage ist ja immer, wo setzt man den Punkt an, an dem Leute als gerade noch introvertiert oder als gerade nicht mehr introvertiert gelten." Das sei ja beliebig. Auch die Hirnphysiologie helfe hier nicht weiter, bemerkt Asendorpf, und spielt dabei auf vergangene Studien an, die behauptet hatten, bei Introvertierten sei die Hirnaktivität höher. "Persönlichkeitsmerkmale lassen sich aktuell noch nicht über bestimmte hirnphysiologische Eigenarten nachweisen", fügt er hinzu.

Umfragen bzw. persönlichen Einschätzungen hält Asendorpf ebenfalls für wenig verlässlich: "Dabei halten sich immer mehr Leute für extrovertiert als für introvertiert, weil das heutzutage wünschenswerter ist. Unsere Gesellschaft bewertet Introversion negativ."

Umpolen zwecklos

Genau aus diesem Grund starte auch ich immer wieder Anläufe, mich umzupolen. Obwohl ich merke, dass mein soziales Kontingent bereits erschöpft ist, zwinge ich mich dazu, unter Leute zu gehen: "Es ist doch Freitagabend. Da kannst du doch nicht rumgammeln. Anstrengende Arbeitswoche hin oder her." Bisher habe ich es jedes Mal bereut, meine Bedürfnisse ignoriert zu haben. Weder ich noch meine Freunde hatten etwas davon. Apathisch saß ich da, Worte quälten sich nur mühsam aus meinem Mund. Jeder Satz war eine Geburt. Und am Ende des Abends hieß es dann: "Was warst du denn so ruhig?".

Der Persönlichkeitspsychologe Asendorpf bestätigt, was ich insgeheim schon immer wusste: "Aus Ihnen wird nie ein extrovertierter Mensch werden. Man weiß aus vielen Studien, dass gerade diese grundlegenden Persönlichkeitsmerkmale sehr resistent gegenüber Veränderungsmaßnahmen sind." Wer dennoch kontinuierlich versuche, eine optimale Persönlichkeit zu entwickeln – und die sei in unserer Gesellschaft nun mal eher extrovertiert als introvertiert angelegt –, der laufe Gefahr, sich psychisch zu malträtieren. "Das kann selbstbildschädigend sein. Man hält sich für minderwertig."

Da hilft wohl nur eines: Sich so zu akzeptieren, wie man ist, und sich bewusst zu machen, dass weder Introversion noch Extroversion per se positiv oder negativ sind. Viel mehr hat die Gesellschaft den beiden Polen dieses Persönlichkeitsmerkmals eine rein willkürliche Bewertung verpasst. Bis diese Erkenntnis Common Sense ist, muss ich aber wahrscheinlich noch einige Mal heimlich aus dem Staub machen.