Der Klumpen zergeht ganz langsam auf meiner Zunge. Ich blicke auf die Uhr. Es ist acht Uhr morgens und ich kaue seit zehn Minuten auf einem Teelöffel Kokosöl herum. Ich habe noch nichts getrunken, nichts gegessen und noch nicht einmal die Zahnbürste in der Hand gehabt. Das erste, was ich zu mir nehme, ist dieses Kokosöl.

Langsam wird aus der butterweichen Paste eine Flüssigkeit, denn erst im Mund, bei mindestens 23 Grad, schmilzt sie. Die zähflüssige Brühe bewege ich im Mund hin und her. Der penetrante Geschmack bedrängt meine Geschmacksknospen. Kurz setzt mein Würgereflex ein, denn mein Körper kennt diese Konsistenz nicht. Nachdem ich mich daran erinnere, das gerade freiwillig zu tun, beruhigt sich der Impuls wieder. Mein Gehirn versucht zu verstehen, dass es gerade okay ist, einen Teelöffel Öl im Mund zu haben.

Mit vollem Mund gehe ich duschen, ziehe mich an und koche Kaffee. Ich mache alles, wie an jedem anderen Morgen auch, nur eben ölkauend. Immer wieder muss ich mich daran erinnern, das Zeug nicht zu schlucken. Nur nicht schlucken! Nach 20 Minuten spucke ich es endlich in ein Taschentuch. Bevor ich das wegwerfe, betrachte ich die Flüssigkeit. Sie ist milchig und erinnert, ehrlich gesagt, an Sperma.

Alte ayurvedische Tradition von Blogger*innen wiederbelebt

Das​ Ölziehen ist eigentlich eine Methode der Alternativmedizin. Man geht davon aus, dass sie aus dem Ayurveda stammt, der indischen Lehre vom gesunden Leben. In der ayurvedischen Heilkunde wird das Ölziehen schon seit Tausenden von Jahren bei vielerlei Beschwerden und Symptomen angewendet. Nun ist diese Tradition wieder en vogue. Auf YouTube findet man abertausende Tutorials und Erfahrungsberichte dazu, wo Blogger*innen erklären, wie das Ölziehen ihr Leben verändert hat.

Auch einige Bücher wurden dazu bereits verfasst. Die bekanntesten von dem Mediziner Bruce Fife, der in Foren als Papst des Kokosöl oder Doktor-Kokosöl gehandelt wird. Seine Bücher heißen etwa: Ölziehkur: Entgiftung und Heilung des Körpers durch natürliche Mundreinigung oder Die Wunder des Kokosnussöls. Seine Agenda ist klar: Er versucht seit vielen Jahren, die Medizin von der wundersamen Wirkung des Kokosöls zu überzeugen.

Eine, die den aktuellen Trend des Ölziehens mitbegründet hat, ist die Bloggerin Madeleine Daria Alizadeh. Die Wienerin thematisiert auf ihrem Blog ihren veganen und umweltschonenden Lebensstil. Bereits 2016 erklärte sie in einem Artikel, dass das Ölziehen zu ihrer täglichen Morgenroutine geworden sei: "Ich nehme dafür einen kleinen Teelöffel Kokosöl in den Mund, lasse es schmelzen und spüle das dann 20 Minuten im Mund herum. Sorgt für weiße Zähne, tötet Bakterien, sorgt für eine gesunde Mundflora und dient angeblich auch zur Entgiftung. Viele sagen es ist Humbug, für mich funktioniert es und sogar meine Zahnärztin hat mir das bestätigt."

Was sagt die Wissenschaft?

Repräsentative wissenschaftliche Belege dafür, dass dieses Ölziehen die Gesundheit verbessert, gibt es nicht. Bisher existieren nur wenige medizinische Studien und diese beschränken sich auf die Mund- und Zahngesundheit.Indische Forschende konnten beispielsweise beweisen, dass Ölziehen die Bakterien und Beläge reduziert, welche für Mundgeruch verantwortlich sind. Auch dass Ölziehen gegen Karies, Zahnbelag und Parodontose hilft, zeigen

diverse Studien. Schwieriger wird es, wenn es darum geht, die Entgiftung des Körpers beim Ölziehen nachzuweisen. Eine

Theorie ist, dass Ölziehen den Blutfluss in den Drüsen um das drei- bis vierfache erhöhe und so eine bessere Durchblutung des Gewebes im Mundraum bewirken soll. Durch diese Anregung soll der Körper mehr toxische Stoffe entschlacken.

Eva C. Meierhöfer, ist Fachzahnärztin für Oralchirurgie in Nürnberg und schreibt auf ihrem Blog: "Wie heißt es so schön: An jedem Zahn hängt auch ein Mensch. Da im Körper alles mit allem zusammenspielt, haben die Giftstoffe und krankmachenden Keime jedoch noch viel weitreichendere Auswirkungen und damit gewinnt Ölziehen noch mehr an Bedeutung für die allgemeine Gesundheit."

Sie betont aber auch, dass Ölziehen kein Allheilmittel gegen jede propagierte Krankheit sei. Warum das Ölziehen in der Medizin bisher so wenig untersucht wird, erklärt sie auch: "In Anbetracht der Tatsache, dass sich mit dem Ölziehen kein großes Geld verdienen lässt, ist es eine Heilmethode, die nicht von der Industrie propagiert wird. Auch die Anzahl der wissenschaftlichen Untersuchungen ist gering. Geld für die wissenschaftlichen Studien wird ja meist erst dann bereitgestellt, wenn jemand sein Produkt oder seine Kur wirtschaftlich vermarkten möchte."

Ähnlich wie bei vielen anderen Methoden der Alternativmedizin, scheiden sich um die Wirkung des Ölziehens die Geister. Kritiker*innen betonen, dass es bisher keinerlei Hinweise für eine entgiftende Wirkung gebe und es sich um reine Spekulation handle. Auf der Plattform medizin-transparent, die den Wahrheitsgehalt von neuen Behandlungsmethoden prüft, wird beispielsweise der gesamte Mythos hinter dem Entgiften infrage gestellt. "Die Idee hinter dem Detox-Boom ist, dass selbst gesunde Menschen gelegentlich ihren Körper von Giften befreien sollten. Welche Gifte das genau sind und wie die mithilfe des jeweiligen Programms genau entfernt werden, ist meistens nicht genauer beschrieben."

Ich versuche es selbst

Dass es so etwas wie die Entgiftung durch Ölziehen gibt, erzählte mir eine Freundin. Ich hatte lange eine vorgefertigte Meinung zu dem Thema. Für mich war dieses Entgiften ein weiterer nerviger Beauty- oder Esoterik-Trend, auf den die Welt gut verzichten könnte – bis ich einen grippalen Infekt einfach nicht mehr loswurde. Für mich war Ölziehen bis dahin auf einem Level mit alternativen Lifehacks wie: Kaffeesatz statt Shampoo zu verwenden oder aus Kastanien selbst Waschmittel herzustellen. Ich belächelte die Ölzieher*innen sogar.

Als ich aber einfach nicht gesund wurde, suchte ich nach einem Funken Hoffnung und gab dem Ölziehen eine Chance. Ja, zu Beginn war es ziemlich ekelig. Außerdem wurde mir klar, wir starr meine morgendliche Routine war. Daran rüttelte ich gar nicht gerne. Aber ich versuchte es und kaute also jeden Morgen auf Öl herum, egal ob vor der Arbeit oder nach dem Feiern am Wochenende. Ich wurde mit der Zeit wieder fit und wollte das auch um jeden Preis bleiben. Je öfter ich es machte, desto weniger dachte ich darüber nach. Und auch der Geschmack wurde weniger intensiv. Klar, bleibt es unangenehm, morgens nicht direkt nach dem Aufstehen einen Kaffee trinken zu können und den Mund voller Öl zu haben, wenn sich die Mitbewohnerin unterhalten möchte. Aber ich hörte nicht auf damit und mache es jetzt seit mehr als einem Monat.

Jeden Morgen kaue ich auf Öl herum, egal ob vor der Arbeit oder nach dem Feiern am Wochenende.

Das Fazit meines esoterischen Ausflugs

Ja, es ist mir fast peinlich es auszusprechen, aber ich glaube mittlerweile an die Kraft des Öls – zumindest ein bisschen. Viele nehmen mich nicht ernst, wenn ich davon erzähle oder belächeln mich dafür. Aber ähnlich wie auch beim Yoga gibt es mir das Gefühl, etwas für die Gesundheit meines Körpers zu tun und nicht gegen sie zu arbeiten. Und das fühlt sich verdammt gut an. Jeden Morgen, wenn ich mir die Flüssigkeit ansehe, die ich da ausspucke, hat das etwas sehr Befriedigendes – ähnlich wie das Ausdrücken eines Pickels. Ich habe das Gefühl, all meine Giftstoffe losgeworden zu sein.

Im Ayurveda dient das Ritual auch der geistigen Reinigung und vielleicht passiert das auch gerade bei mir. Denn wie bei jeder anderen Entgiftung auch, ist das eigentlich Entscheidende, dass ich mehr über meinen Körper und mich nachdenke. Ich habe seither auch ganz mit dem Rauchen aufgehört. Da es mir heuchlerisch vorkam, Öl im meinem Mund herumzuspülen, um später Nikotin zu inhalieren. Und es bringt auch wenig, mit dem Ölziehen den Schaden vom Vorabend zu minimieren.

Da niemand meinen Selbstversuch medizinisch begleitet hat, kann ich nur spekulieren, ob sich meine Gesundheit verbessert hat. Ich bilde mir aber ein, weniger Bläschen im Mund zu haben, dass meine Lippen trotz trockener Heizungsluft weicher geworden sind und dass meine Weisheitszähne weniger wehtun. Zufall? Placebo? Ist möglich. Vielleicht ist es Humbug, aber es tut für mich nichts zur Sache. Für ein gesünderes Lebensgefühl bezahle ich gerne vier Euro pro Glas Kokosöl und nehme gerne belächelnde Reaktionen in Kauf. Und kaue jeden einzelnen Morgen wieder darauf rum.