Der erste Wahlgang war für viele junge, linke Franzosen und Französinnen eine bittere Enttäuschung. In Umfragen hatte ihr Präsidentschaftskandidat Jean-Luc Mélenchon zuvor deutlich aufgeholt, er war einer der Top-Vier Kandidat*innen. Für den Einzug in die Stichwahl hat es dann aber doch nicht gereicht. Am 7. Mai werden dort nun der liberale Emmanuel Macron und die rechtsextreme Marine Le Pen gegeneinander antreten. Der eine wirbt für mehr Europa, die andere hetzt gegen Migrant*innen. Eigentlich klar, für wen von beiden junge Linke nun stimmen müssten. Oder?

Tatsächlich ist die französische Linke gespalten. In Frankreich ist es üblich, dass die ausgeschiedenen Kandidat*innen des ersten Wahlgangs eine Wahlempfehlung für ihre Wähler*innen aussprechen. Die meisten sprachen sich für Macron aus. Der linke Kandidat Mélenchon sagte lediglich, dass er es niemanden empfehlen würde, Le Pen zu wählen: "Meine Position ist nicht weder-noch. Ich stimme nicht für den Front National und ich sage allen, dies nicht zu tun."

Trotzdem sprach er sich nicht direkt dafür aus, stattdessen für Macron zu stimmen. Der Tweet zeigt den Konflikt, den viele französische Linke gerade mit sich austragen: Macron wählen – oder überhaupt nicht wählen gehen. Statt die Nicht-Wählenden pauschal zu verurteilen, lohnt es sich, sich ihre Argumente anzusehen.

Wer hat uns verraten?

Um die Argumente der Nicht-Wähler*innen zu verstehen, kommt man nicht an dem Soziologen Didier Eribon vorbei. Der hat in seinem Buch Rückkehr nach Reims analysiert, warum viele derjenigen, die früher für linke oder kommunistische Parteien gestimmt haben, inzwischen den Front National wählen. Das Buch wird europaweit von Menschen gelesen, die den Aufstieg der Rechten nicht nur in Frankreich, sondern auf dem ganzen Kontinent verstehen wollen. Zusammengefasst ist sein Fazit, dass es die Schuld der Linken selbst sei, genauer: die Schuld der sozialdemokratischen Politik der Schröders, Blairs und Hollandes.

Diese hätten mit ihrer neoliberalen Agenda-2010-Politik, mit dem Abbau sozialer Sicherungssysteme ihre sozialistischen und sozialdemokratischen Grundsätze verraten, so Eribon. Und dadurch das Vertrauen der zuvor linkswählenden Arbeiterklasse verloren. In Nordfrankreich gebe es ganze Landstriche, in denen das Leben der Menschen aufgrund der zunehmenden Deindustrialisierung vollkommen zerstört wurde. Dass so viele Arbeitende inzwischen Rechts wählen ist für den Soziologen "politische Notwehr der unteren Schichten". Für diese seien die Rechtsextremen die einzigen, die ihre Probleme thematisieren: Deindustrialisierung, Arbeitslosigkeit, Abgehängtsein.

"Wer Macron wählt, wählt Le Pen"

Was bedeutet das jetzt für die kommende Stichwahl? "Wer Macron wählt, wählt Le Pen", so Eribon. Für den Soziologen schiebt man mit dem Wahlsieg Macrons den Wahlsieg Le Pens nur um fünf Jahre hinaus. Denn Macron wird die neoliberale Politik seines Vorgängers, die auf Kosten der Arbeiterklasse geht, fortführen. "Was er wirklich will, ist eine konservative Restauration, er will die Errungenschaften aus einhundert Jahren sozialer Kämpfe kassieren: das Arbeitsrecht, die Versicherungen für Arbeitslosigkeit, Krankheit und Rente", schreibt Eribon in der FAZ. Macron will beispielsweise die 35-Stunden-Woche abschaffen und den Druck auf Arbeitslose erhöhen, Jobs anzunehmen. Dass deutsche und internationale Medien Macron als progressiven Politiker und Bollwerk gegen Rechtsextremismus sieht, bezeichnet Eribon als eine gravierende Wahrnehmungsstörung.

Sein Fazit: Marine Le Pen und Emmanuel Macron bedingen sich gegenseitig, sie sind Teil desselben Systems. Eine Politik, von der sich Arbeitende und Abgehängte nicht repräsentiert fühlen, vertreten durch Macron, treibe die Menschen in die Arme von Le Pen mit ihren fremdenfeindlichen und nationalistischen Erklärungsmustern. "Heute appelliert man an uns, Macron zu wählen, um damit ein Phänomen einzudämmen, für das Leute wie er doch maßgeblich verantwortlich sind", so Eribon. "Wenn Macron im Mai zum Präsidenten gewählt wird, dann bekommt Le Pen beim ersten Wahlgang in fünf Jahren wahrscheinlich über 40 Prozent. Dynamisch gesehen wählt man also mit Macron schon heute Le Pen."

Unter dem Hashtag #SansMoi (Ohne mich) und #NiMacronNiLePen (Weder Macron noch Le Pen) posten Menschen, die bei der Stichwahl für kein*e der beiden Kandidat*innen wählen werden. Dort schreibt beispielsweise ein Nutzer: "Es ist die Wahl zwischen Rechtsextremismus und liberalem Extremismus. Also zwischen Pest oder Cholera."

Andere Linke wie der Grünenpolitiker Daniel Cohn-Bendit werben um die Stimmen der Mélenchon-Anhänger*innen. Er fordert sie auf, am kommenden Sonntag für Macron zu stimmen. "Am linken Rand der Linken findet man Hass", sagte Cohn-Bendit dem Fernsehsender Europe 1. "Und aus Hass entwächst keine neue, sozialistische Gesellschaft. Also schiebt euren Hass zur Seite und denkt rational. Mit der Wahl von Emmanuel Macron verteidigen wir die Demokratie und die Freiheit."