Den Freund oder die Freundin zum ersten Mal den eigenen Eltern vorzustellen, ist eine aufregende Erfahrung. Dann ist es offiziell, man meint es ernst und die Eltern dürfen ihren Senf dazu abgeben. Für Ata* ist das eine befremdliche Vorstellung: Der 22-Jährige ist schwul und würde seinem Vater seinen Partner nicht vorstellen. Denn Atas Vater weiß nicht einmal, dass sein Sohn auf Männer steht.

Vater, Mutter, Sohn

Ata ist in der Türkei geboren. Seine Eltern zogen mit ihm nach Deutschland, als Ata noch ein Kleinkind war. Seine Mutter zog zurück in die Türkei, nachdem sich Atas Eltern trennten. Sie weiß, dass ihr Sohn schwul ist und hat kein Problem damit. Aber die beiden sehen sich nur selten.

Seinen Vater sieht Ata nach wie vor regelmäßig, meist zum Essen. "Wenn wir in unserem Stammrestaurant sind, dann freuen sich die Kellner immer, dass wir zusammen da sind und uns so viel zu erzählen haben." Doch Atas Geschichten weisen wichtige Lücken auf. Von Dates mit Typen erzählt er seinem Vater nicht. "Ich finde es einfach im Moment irrelevant. Ich würde mir damit nur unnötige Schwierigkeiten machen", erklärt er. Ata möchte die Beziehung zu seinem Vater nicht unnötig gefährden. Erst seit einigen Jahren haben die beiden Männer wieder ein stabiles Verhältnis.

Atas Wunsch, nach der Trennung der Eltern in eine eigene Wohnung zu ziehen, hatte damals zu einem Konflikt mit seinem türkischen Vater geführt. In dessen Augen war Atas Umzug ein Bruch mit den eigenen Traditionen.

Was würde Atas Vater erst über die Sexualität seines Sohnes denken?

Erwartungen an einen Sohn

Die Angst vor dem Coming-out kann sehr individuelle Gründe haben, weiß Andreas Heilmann. Der Soziologe am Institut für Soziologie an der Universität Jena befasst sich in seinen Vorträgen und Publikationen intensiv mit dem Thema Outing und Homosexualität.

Das Outing vor den eigenen Eltern ist oft ein besonders wichtiger und schwerer Schritt, erklärt er: "Vor Freunden oder Geschwistern kann das leichter fallen. Oft hängt es davon ab, welche Vorstellung über Sexualität in der Familie herrschen. Ist man liberal gegenüber anderen sexuellen Orientierungen? Wie rigide ist die Sexualmoral? Und welche Idee von Männlichkeit wird in der Familie vertreten?"

„Ich habe das Gefühl, dass mein Vater nicht mich mag, sondern die Idee von mir als Sohn." – Ata, 22

Ata bezeichnet seinen türkischen Vater und dessen Familie als bürgerlich, aber nicht streng konservativ. Dennoch hat die Familie ein eher traditionelles Bild von Männlichkeit, in das Homosexualität nicht so recht reinpasst. "Ich habe das Gefühl, dass mein Vater nicht mich mag, sondern die Idee von mir als Sohn. Er stellt sich vor, dass ich irgendwann eine Frau heiraten, mit ihr zusammenziehen, Kinder kriegen und im Anzug zur Arbeit gehen werde", sagt Ata.

Die Erwartungen seines Vaters sind womöglich eng mit der historischen Bedeutung von Heterosexualität verbunden – als Voraussetzung, die Zukunft der eigenen Familie zu sichern. "Als Teil einer traditionellen Geschlechterordnung garantierte Heterosexualität, dass sich Familien ökonomisch sicher weiterentwickeln konnten", erklärt Andreas Heilmann. Outet sich ein Mann als schwul, gerät diese Konstruktion von Ehe, Familie, Kindern und Generativität ins Wanken. "Und in einer patriarchalen Gesellschaft, in der Männlichkeit höher gewertet wird als Weiblichkeit, kann das natürlich besonders heikel sein." Obwohl Ata in Deutschland lebt, wird er durch seinen türkischen Vater regelmäßig mit diesen Ansichten konfrontiert.

In der Türkei ist Homosexualität zwar nicht illegal. Homosexuelle Partnerschaften werden jedoch nicht staatlich anerkannt. Beim türkischen Militär wird Homosexualität als "psychosexuelle Störung" angesehen und schwule Männer daher häufig vom Militärdienst ausgeschlossen. "Schwulsein" hat eine andere Bedeutung als in Deutschland. So macht man in der türkischen Gesellschaft auch einen Unterschied in der Wahrnehmung von passiven und aktiven Sexualpartner*innen. Eine aktive Penetration wird eher akzeptiert als ein passives Empfangen. "Empfangen ist weiblich konnotiert, penetrieren dagegen männlich", erläutert Heilmann. Ein passiver Sexualpartner verletzt daher viel eher das traditionelle Rollenbild des türkischen Mannes, denn sein Sexualverhalten gilt als weniger männlich.

Als Ata bei einem gemeinsamen Essen einen unechten Helix-Piercing im rechten Ohr trug, wurde es brenzlig: "Ich trug den Helix damals, um eine unschöne Delle an meinem Ohr zu verstecken und habe wohl unterschätzt, wie mein Vater den Schmuck wahrnimmt. Er hat mich gefragt, warum ich den Schmuck am rechten Ohr trage, das würden ja Schwule auch so machen", erinnert er sich. Ata erklärte seinem Vater, dass ein Ring am rechten Ohr nicht zwangsläufig ein Symbol für Homosexualität sei. "Aber für den Rest des Abends habe ich dann das Teil abgenommen."

Outing als Prozess

Atas Freund*innen wissen, dass er schwul ist. In seiner Clique fühlt er sich wohl und kann offen über seine Sexualität reden. Bei neuen Bekanntschaften steht er jedoch immer wieder vor der Wahl: Oute ich mich als schwul, oder nicht?

"Das Coming-out ist kein zielsicherer Prozess, an dessen Ende eine fertige Identität steht. Stattdessen ist es häufig ein länger andauernder Prozess der persönlichen Auseinandersetzung mit der eigenen sexuellen Orientierung, den man nicht mit einem genauen Anfang und Ende benennen kann", weiß Andreas Heilmann. An einem Outing hängen immer weitere Fragen: Wie gestalte ich mein Leben? Gehe ich eine Partnerschaft ein? Wie lebe ich meine Sexualität und woran orientiere ich mich?

"Ich weiß, dass nichts Lebensbedrohliches passieren wird. Aber man macht ja auch kein Feuerzeug an der Tankstelle an.“ – Ata

Für Ata ist es besonders schwierig, Antworten auf diese Fragen zu finden. Er pendelt zwischen der türkischen und deutschen Kultur und deren Normen und Werten.

Die Offenheit und Toleranz, die er in seinem privaten Umfeld erfährt, und die traditionellen Ansichten seines Vaters sind Gegensätze, zwischen denen Ata sich selber zurechtfinden und positionieren will. Das braucht Zeit. Aber irgendwann will er seinem Vater den Mann vorstellen, den er liebt. "Ich glaube zwar schon, dass mein Vater das verarbeiten könnte, aber ich weiß auch, dass er seine Zeit dafür bräuchte. Ich weiß, dass nichts Lebensbedrohliches passieren wird. Aber man macht ja auch kein Feuerzeug an der Tankstelle an."

* Name von der Redaktion geändert