Es kommt der Zeitpunkt, an dem wir körperliche Berührungen nicht mehr wirklich intensiv wahrnehmen. Küsse werden zur Routine. Sex ist allzu häufig triebhaft-distanziert. Doch die echte Umarmung, die bleibt ein Zeichen von Wärme, Anteilnahme und Verständnis.

In schweren Zeiten umarmt zu werden ist wie Medizin für die Seele. Wir alle kennen dieses Gefühl. Es zeigt uns: Du verstehst mich. Aber dafür, dass uns diese Art der körperlichen Berührung so viel gibt, nehmen wir sie uns zu wenig.

Wir brauchen Umarmungen …

Fast wirkt es, als hätten wir in all dem Alltagsstress und der Schnelllebigkeit vergessen, welche Kraft diese Berührung hat. Umarmungen sind häufig nicht mehr als kurze, kühle Alternativen zum Handschlag bei Begrüßung und Verabschiedung. Forscher*innen bescheinigen uns sogar einen chronischen Berührungsmangel. Untersuchungen zeigen, dass sich selbst Paare – wenn überhaupt – nur noch alle paar Tage umarmen.

"Unsere Kultur will das oft nicht wahrhaben, aber Berührungen haben für Lebewesen einen Stellenwert wie die Luft zum Atmen", sagte Martin Grunwald von der Universität Leipzig 2016 zu ZEIT Online. Anders gesagt: Umarmungen machen uns gesund. Bei Umarmungen schüttet unser Körper das Hormon Oxytocin aus, das positiv gegen Stress wirkt. Unser Blutdruck sinkt, Ängste und Schmerzen lassen nach. Außerdem steigern Umarmungen unser Selbstwertgefühl.

Regelmäßige Umarmungen könnten sogar das Immunsystem stärken und weniger anfällig für Erkältungsviren machen, wie Psycholog*innen der Carnegie Mellon University in Pittsburgh herausfanden. Sie befragten für eine Studie Proband*innen nach sozialen Kontakten und infizierten sie mit Erkältungsviren. Die Teilnehmer*innen, die oft in den Arm genommen worden waren, bekamen seltener einen Schnupfen als andere.

Unbewusst spüren wir offenbar, wie gut uns das Schmusen tut oder tun würde: Jeder dritte Mensch in Deutschland möchte laut Studien häufiger in den Arm genommen werden. Bei Menschen zwischen 18 und 24 sogar jede*r zweite. Auf die Frage, was sie glücklich macht, sagen die meisten Menschen im Land an erster Stelle, noch vor Sex, Ausgehen, Zusammensein mit Freund*innen oder Familie, Urlaub in der Natur: eine Umarmung.

Die Free-Hugs-Bewegung, die ihren Urprung in Australien hat, macht es sich zur Aufgabe, Menschen dazu zu inspirieren, andere öfter wahllos und intensiv zu umarmen. Auf ihrer Webseite schreiben die Gründer*innen: "Manchmal ist eine Umarmung alles, was wir brauchen." Sie lösten mit ihrer Idee eine globale Welle aus. Auf beinahe jedem Musikfestival trifft man mittlerweile Menschen, die ein Schild mit dieser Aufschrift in die Höhe halten.

… also umarmt euch!

Der Berliner Paartherapeut und Autor Wolfgang Krüger ist sogar der Überzeugung, dass häufige Umarmungen die Liebe unter Paaren stärken. In seinem Buch So gelingt die Liebe beschreibt er, was sie in uns auslösen können. Auf die Frage, was eine Umarmung ausmacht, sagt er: "In der echten Umarmung passiert so viel, weil so wenig passiert. Sonst sind wir aktiv, wir tanzen miteinander, schmusen, sind im Bett sehr einfallsreich. Doch bei Umarmung lassen wir uns aufeinander ein, spüren uns und den anderen, bis wir merken, dass wir diese Intensität kaum aushalten – und uns wieder lösen."

Das sei eine der intensivsten körperlichen Erfahrungen, die wir als Mensch erleben könnten, wie er bei seiner Arbeit mit Paaren erfuhr. "Umarmungen sind deshalb so tiefgehend, weil so wenig Ablenkendes passiert, es ist die schlichteste und damit aufregendste Form körperlicher Berührungen", sagt Krüger. Damit verstärkten Umarmungen das Gefühl der Zusammengehörigkeit, Streitigkeiten und Machtkämpfe würden gedämpft, weil ein tiefes Vertrauen entstünde, indem beide spürten: Wir gehören zusammen.

"Glückliche Paare suchen die Begegnung und es kommt zu längeren Umarmungen, die mehr als 60 Sekunden dauern", sagt der Paartherapeut. "Diese Umarmungen kennen wir aus der Zeit der Verliebtheit. Sie schaffen ein tiefes Gefühl der großen Liebe – trotz aller Schwierigkeiten." Krüger nennt eine Faustregel: Sich einmal in der Stunde zu umarmen, erneuere das Gefühl der Verliebtheit, weil eine intensive Nähe entsteht, die positiv dabei helfe, den mitunter schwierigen Alltag zu bewältigen.

Die 60-Sekunden-Regel lässt sich auch auf alle freundschaftlichen und familiären Beziehungen anwenden. Eigentlich ist es ganz einfach: Je mehr wir uns umarmen, desto besser fühlen wir uns.

Wieso fangen wir nicht gleich damit an?