Eine Schwester schließt mir von Außen die Tür auf: Station 6c, geriatrische Psychiatrie. Meine Oma wohnt jetzt hier.

"Sie sind die Enkelin von Frau Moll?", fragt sie durch ihre weiten Nasenlöcher schnaufend. "Jap", antworte ich. "Gut, dass sie da sind", erwidert sie. Während wir über das mintgrün gesprenkelte Linoleum im Flur laufen, erzählt sie mir: "Frau Moll, ihre Großmutter hat heute versucht, einen anderen Patienten zu erwürgen. Und beim Mittagessen hat sie mit einer Küchenkelle randaliert."

Beim Mittagessen hat sie mit einer Küchenkelle randaliert

Zugegebenermaßen, meine Oma ist eine hervorragende Köchin und vielleicht verdient der Koch des Krankenhauses eine Tracht Prügel für die Thunfisch Ravioli, aka Kotze mit Fischresten, die ich bei meinem letzten Besuch probieren durfte. Wir stehen am Ende des Ganges. "Sie ist jetzt da drin", betont die Schwester und deutet auf einen verschlossen Raum. Seine Fenster und Türen sind aus Milchglas, ich kann meine Oma verschwommen von außen erahnen. 

Oma denkt, sie sei schwanger

Oma liegt wie versteinert da, kerzengerade auf einer Gummimatratze auf dem Boden und starrt an die Decke. Ihr Körper ist anwesend, ihr Geist ist fern. Oma erschrickt, als ich den Raum betrete. Ihr erster Schock wandelt sich in ein Lächeln und geht dann in Sorge über "Was machst du hier? Das ist gefährlich!"

Ich breite meinen Schal aus, lege mich neben sie auf den Boden und fange an, ihre Hand zu streicheln. Wie beste Freundinnen liegen wir jetzt dicht nebeneinander und schauen uns in die Augen.

Meine Oma erzählt mir, dass sie ein Kind erwartet, aber dass das in ihrem Alter doch unmöglich sei. Sie erzählt, dass sie eine Hure ist und es hier überall vor Soldaten wimmele. Ich solle mit meinem Kopf unten bleiben, denn die Männer würden sonst auf uns schießen. Sie durchlebt Kriegserlebnisse. Scheinbar konnte sie sich damals nicht gegen die Männer wehren. Oma erzählt von einer Fehlgeburt und fühlt sich schuldig. Sie erklärt mir immer wieder, dass man in ihrem Alter kein Kind kriegen könne. Wieder und wieder tastet sie ihren Bauch ab.

"Hier ist ein Loch mit ganz viel Blut", sagt sie und schaut mich an, voller Angst. Sie reißt die Augen auf und fragt, ob ich mich um das Kind kümmern könne. Ich habe das Gefühl, mit jedem Blick in ihre Augen tiefer in ihren Kopf einzudringen. Ich fühle sie und sie fühlt mich. "Das ist ja wie ein richtig beschissener Trip", denke ich. Und damit kenne ich mich aus.

MDMA, LSD, Alzheimer – macht kaum einen Unterschied

Jeder schlechte Drogen-Trip hat seinen Grund, das Gleiche gilt für die Wahnvorstellungen meiner Großmutter. Ihre wirren Gedanken sind ein Geflecht aus wahren Erlebnissen, Erinnerungen, Ängsten und aktuellen Nachrichten. Sie wuchs während des zweiten Weltkriegs auf, wurde von russischen Männern befreit, ihre Mutter vergewaltigt. Sie verlor vor mehr als 40 Jahren ein Kind. Sie las immer viel. Kennt Tausende Geschichten.

All das - Erlebnisse und Wissen -  mischen sich heute zu einem eigenen Süppchen zusammen.

Jetzt liege ich neben ihr und fühle mich an mich selbst erinnert. An eine kleine Überdosis MDMA nach einer Silvesterparty und an einen richtig beschissenen LSD-Trip auf einem Festival. In beiden Situationen hatte ich furchtbare Angst, von allen Menschen, die mir lieb waren, verlassen zu werden. Ich heulte Rotz und Wasser, brach nach der vergeblichen Suche nach meiner Freundin auf der Tanzfläche zusammen. Meine Synapsen hatten sich in diesen Situationen, durch überhöhten Drogenkonsum, einmal zu viel miteinander verflochten. Meine verlorengegangene Freundin wurde zur Symbolfigur für alle Menschen, die ich liebe – ihre "Flucht" der Beweis dafür, dass sie mich alle verlassen würden.

Und in der Tat hatte ich schon viel Verlust erlebt: Liebe voller Herzschmerz, Betrug und Anwaltskosten. Zwei an Krebs verstorbene Großeltern, die unsere Familie bis zum Ende pflegte und die Krebsdiagnose meiner Mutter. #Yes

Diese Erlebnisse füllten meine Horrortrips. Heute hilft mir mein damaliges Drogen-Durcheinander meine "neue" Oma zu verstehen.

"Alles ist gut"

Noch immer liegen wir nebeneinander. Ich bringe sie zum Lachen, versuche sie von ihrem Wahn zu befreien, indem ich ihr eine neue Geschichte zum Nachdenken einflöße. "Ich will selber Kinder haben, Oma", sage ich und dass es nur noch den richtigen Zeitpunkt bräuchte. Ich sage ihr oft und immer wieder, dass alle ganz lieb seien auf der 6c und das ich ganz lieb sei und sie auch. "Alles ist gut". Ich streichle ihre Hände und ihr Gesicht.

Berliner Clubgänger*innen kennen diesen Satz. Dieses "Alles ist gut", wenn sie Drogen nehmen. Viele hier nehmen Drogen. "Alles ist gut" taucht immer auf, wenn sich die Pupillen eines anderen Partygängers ein paar Millimeter zu sehr geweitet haben und der mentale Absturz kurz bevor steht. Auch in diesen Situationen empfiehlt es sich den Leidenden von seinen dunklen Gedanken abzulenken, so wie ich gerade meine Oma.

Körperliche Nähe, positive Worte, neue Gedanken – gegen Alzheimerschübe und Drogentrips hilft das zumindest vorübergehend. Streng genommen ist meine Großmutter jetzt auch drogenabhängig. Sie wird gerade medikamentös eingestellt, nimmt Neuroblocker, Stimmungsaufheller und vieles mehr. Ihr Gehirn schrumpft. Die Ärzte suchen nach dem besten Cocktail bunter Pillen – der perfekten Mischung aus Uppern und Downern. Im übertragenen Sinne ist das auch die Freizeitbeschäftigung vieler Techno-Berliner*nnen.

Oma hat Superkräfte

Meine Oma als eine besondere Clubgängerin zu sehen, die eine Überdosiserfahrung durchlebt, hilft mir, sie zu verstehen. Mit der Diagnose Alzheimer zurechtzukommen.

Ihre Situation ist nicht würdelos. Ihre Realität ist schlichtweg eine andere und es ist jetzt meine Aufgabe diese anzunehmen. Allein ihre Sensibilität für Berührungen und Stimmungen ist übermenschlich, sie grenzt an eine Superpower oder an MDMA.

Ich stelle mir vor: Wir liegen nicht mehr auf dem Linoleum von 6c, sondern in einem Club, in dem wir beide die einzigen Gäste sind. Der Gedanke lässt mich schmunzeln. Ich drehe mich zu ihr herüber und sehe wie sie lächelt. Sie scheint zu ahnen, dass wir in meinem Kopf gerade tanzen.

Dieser Artikel ist Interpretation der Autorin und keineswegs wissenschaftlich, vielleicht kann er trotzdem Menschen in ähnlichen Situationen inspirieren, einen Schritt in die Welt der "Kranken" zu machen.