Wenn ich an meine Schulzeit am Abendgymnasium zurückdenke, fange ich unwillkürlich an, sie zu verklären. Trotz meiner schönen Erinnerungen muss ich zugeben, dass die Abiturzeit alles andere als einfach war. Über knapp vier Jahre musste ich nach jedem Arbeitstag noch mal rund vier Stunden in der Schule absitzen. Eine Doppelbelastung, die mir einiges abverlangt hat. Doch von Anfang an: Warum habe ich mich überhaupt dazu entschieden, das Abitur nachzuholen?

Noch mal ganz von vorne anfangen

Mit 20 hatte ich bereits meine Ausbildung als Industriemechanikerin abgeschlossen. Ich musste jedoch feststellen, dass ich damit kaum Aufstiegsmöglichkeiten hatte. Denn für jede höhere Position war ein Studium Voraussetzung. Für mich war es schwer vorstellbar, bis zur Rente in demselben Job zu arbeiten. Meinen Kollegen aus der Ausbildung konnte ich das nur schwer erklären. Schließlich hätte ich einen relativ gut bezahlten, sicheren Job im öffentlichen Dienst haben können.

Damit wollte ich mich aber nicht zufrieden geben und meldete mich beim Abendgymnasium Bielefeld an, um mein Abi nachzuholen. Anfangs waren wir dort eine Gruppe von schätzungsweise 20 bis 25 Menschen in einer Klasse. Noch bevor ich mit dem Abitur begann, musste ich einen sogenannten halbjährlichen Vorkurs absolvieren, der noch vor der elften Klasse ansetzt. Dieser ist vorgeschrieben, wenn man keine zweite Fremdsprache beherrscht. Ich arbeitete in dieser Zeit werktags von 7:15 Uhr bis 15:45 Uhr, machte zwischendurch eine kurze Pause und war danach von 17:30 Uhr bis 21:30 Uhr in der Schule.

Nach dem Vorkurs und dem ersten Halbjahr der elften Klasse, wechselte ich auf das Abendgymnasium in Berlin-Wilmersdorf. Meine neue 30-Stunden-Stelle als Anzeigenberaterin bei einer Zeitung ließ mir nun etwas mehr Zeit für die Schule. Allerdings begann mein Tag jetzt erst um 9 Uhr, sodass ich zwischendurch keine Zeit mehr hatte, nach Hause zu fahren. Also überbrückte ich die Zwischenzeit im Büro und lernte oder machte Hausaufgaben.

Die Aussicht auf neue Möglichkeiten spornte mich an

Oft kam ich erst gegen 22 Uhr nach Hause, worunter meine Beziehung sehr litt. Ich hatte so gut wie gar keine Freizeit mehr: An ein Hobby oder Sport war nicht zu denken. Auch die Wochenenden gingen zum Großteil fürs Lernen drauf. Selbst ein Arztbesuch war nur schwer zu organisieren. Trotz allem ging ich meistens gerne zur Schule. Mir war zwar damals noch nicht klar, was genau ich beruflich machen wollte, doch die Aussicht auf viele neue Möglichkeiten spornte mich an.

Laut Angela Hoffmann, Vorsitzende des Bundesrings der Abendgymnasien Deutschlands und Leiterin des Abendgymnasiums Heinrich von Kleist in Potsdam, decken sich meine Erfahrungen mit denen der meisten anderen Abendschüler*innen. Denn ausschlaggebend für den Beginn der Abendschule ist für die meisten angehenden Abiturient*innen der Wunsch nach Veränderung: "Das Interesse zum Besuch eines Abendgymnasiums beginnt oft mit dem Wunsch nach Lebensveränderung. Die Schüler*innen empfinden einen beruflichen Stillstand und möchten sich umorientieren. Oftmals geht es den Schüler*innen dabei auch um eine Identitäts- und Sinnsuche", so Hoffmann.

Viele verlassen die Schule vorzeitig

Schon während der Vorkursphase in Bielefeld verlor unsere Klasse einige Mitschüler*innen. Sich jeden Abend nach der Arbeit noch einmal für ein paar Stunden in der Schule einzufinden, war sehr kräftezehrend. Die Motivation war bei allem anfänglichen Elan bei vielen Abendschüler*innen schon nach ein paar Monaten verflogen. Viele brachen die Schule auch aus familiären Gründen ab.

So zum Beispiel ein Mitschüler von mir. Er war damals Mitte vierzig und von Beruf Fleischer. Nach seinem Abitur wollte er Psychologie studieren. Seinen Arbeitskolleg*innen verschwieg er seine Pläne. Sie hätten nicht verstanden, dass er mit über 40 noch anfängt, sein Abitur nachzuholen, um einem Hirngespinst nachzueifern. Warum sollte er es schließlich besser haben als sie? Mich hingegen beeindruckte sein Vorhaben: Er hatte den Mut aufgebracht, zumindest den Versuch zu starten, etwas zu ändern. Leider brach er die Abendschule noch während des Vorkurses ab, weil seine Mutter zum Pflegefall wurde.

Meine ehemalige Lehrerin, die Schulleiterin des Abendgymnasiums in Berlin-Wilmersdorf Christiane Grüner, bestätigte mir, dass meine Klasse bei meinem Einstieg anfänglich noch 17 Schüler*innen zählte. Von diesen haben, einschließlich meiner Person, schlussendlich nur sieben das Abitur abgelegt.

Offenbar ist diese Abschlussquote an Abendgymnasien kein Einzelfall. Denn viele andere Abendschüler*innen brechen die Schule ebenfalls vorzeitig ab. "Nach meinem Kenntnis- und Erfahrungsstand erwerben etwa 60 bis 70 Prozent der Abendschüler*innen das Abitur", sagt Hoffmann. Für das vorzeitige Beenden des Abendschulbesuches gibt es häufig existenzielle Gründe: "Oft sind Lebens- und Berufsanforderungen nicht mehr mit den schulischen Anforderungen zu vereinbaren, oder es ergeben sich alternative Entwicklungsmöglichkeiten", so Hoffmann.

Mehr als nur ein formaler Abschluss

Ich muss zugeben, dass meine größte Motivation, um das Abitur tatsächlich zu beenden, meine damalige Arbeitssituation war. Immer wenn ich kurz davor war, das Handtuch zu werfen, führte ich mir vor Augen, dass ich es so niemals aus meinem Job schaffen und immer ein unbedeutendes Rädchen in einem großen Getriebe bleiben würde. Außerdem war für mich der Zusammenhalt unter den verbliebenen Abiturient*innen wichtig.

Besonders ab der zwölften Stufe, in denen sich die Klassen in Leistungs- und Grundkurse auflösten, gab es nur noch wenige, die die Schule abbrachen. Es bildete sich eine kleine verschworene Gemeinde, von deren gegenseitiger Unterstützung ich so manches Mal zehrte. Denn an der Abendschule gab es durch die wenigen Schüler*innen kein anonymes Abtauchen in der Masse, wie ich es später an der Uni kennenlernte. So manches Mal ging ich nur deshalb zur Schule, weil ich wusste, dass jemand mein Fehlen bemerken würde.

Eine ausgeprägte Solidarität unter den Schüler*innen scheint auch an anderen Abendgymnasien die Regel zu sein. "Der Zusammenhalt unter den Abendschüler*innen ist stark und von gegenseitigem Respekt und Unterstützung geprägt. Notenkonkurrenz spielt praktisch keine Rolle, dagegen ist das Bedürfnis nach wechselseitiger Unterstützung gerade in schwierigen Phasen typisch", sagt Hoffmann.

Als Durchhaltetipp verweist Hoffmann auf die über den formalen Abschluss hinausgehende soziale und kulturelle Bereicherung, die die Schüler*innen am Abendgymnasium suchen und finden. Zudem haben viele Abendschulen ein entsprechendes Beratungssystem zur Begleitung entwickelt, das einem Schulabbruch vorbeugen soll.

Die Chance zum gesellschaftlichen Aufstieg

Nur die wenigsten meiner Mitschüler*innen kamen aus Akademiker*innen-Familien, auch ich nicht. Als Jugendliche kam mir eine höhere Schulbildung nicht in den Sinn. In der Grundschule habe ich ein Empfehlungsschreiben für die Realschule erhalten. Genauso wie meine beiden jüngeren Schwestern. Meinem persönlichen Eindruck nach ist vielen Abendschüler*innen der Sprung auf das Gymnasium auch aufgrund ihrer Herkunft verwehrt geblieben oder erschwert worden, sodass sie erst als Erwachsene schließlich auf der Abendschule gelandet sind.

Auch Hoffmann empfindet das Abendgymnasium als wichtige Institution gegen die strukturelle Bildungsbenachteiligung von Arbeiter*innen- und Angestelltenkindern. "Der Besuch des Abendgymnasiums ist eine Weichenstellung für die eigene gesellschaftliche Positionierung und ermöglicht den beruflichen Aufstieg. Denn unabhängig von der sozialen Stellung kann das individuelle Recht auf Bildung am Abendgymnasium eingelöst werden," so Hoffmann. Besonders erwähnenswert ist an dieser Stelle, dass staatliche Abendgymnasien kostenlos besucht werden können, ein weiteres Argument für angehende Abiturient*innen mit geringem Einkommen.

Grundsätzlich würde ich allen, die überlegen, das Abitur nachzuholen, zum Abendgymnasium raten, auch wenn dieser Weg recht steinig ist und sicher im Laufe der Zeit dafür Opfer gebracht werden müssen. Und er ist lang: Denn mit anschließendem Studium bis zum Master können insgesamt rund neun Jahre vergehen. Allein in den knapp vier Jahren bis zum Abitur war meine Freizeit stark eingeschränkt. Doch nach dem Abschluss stand mir endlich die Uni offen und ich konnte mich beruflich verändern. Ich habe nach der Abendschule Deutsche Literatur und Gender Studies studiert. Momentan absolviere ich die Journalistenschule im Fernstudium, arbeite als festangestellte Online-Redakteurin und nebenbei als freiberufliche Autorin. Wo ich unter anderem Texten wie diesen hier verfasse. Für mich ein echter Traumberuf, den ich ohne Abitur und Studium nie hätte verwirklichen können.