Sex im Traum mit Personen außerhalb der Beziehung ist emotionaler Betrug. Oder ist er doch völlig belanglos? Ein Psychotherapeut erklärt, wie man erträumtes Fremdgehen deuten kann. Du spazierst Arm in Arm mit Person X durch die dunklen Straßen. Die Stimmung ist entspannt, ihr lacht, seid glücklich. Wie so oft geht ihr zu dir nach Hause, um noch ein Bier zu trinken. Ihr sitzt nebeneinander auf der Couch, das Licht ist gedimmt, aus den Boxen plätschert Musik. Langsam kommt ihr euch näher und das Gespräch verstummt. Die Klamotten fallen, ihr berührt euch. Alles fühlt sich richtig an.

Dann öffnest du die Augen. Es war nur ein Traum, im Kopf hattest du mit Person X gerade heißen Sex – während dein Körper neben jemand anderes schlief. Neben deinem Liebling, mit dem du im echten Leben zusammen und glücklich bist. Dachtest du zumindest. Denn der Traum mit der anderen Person war realistisch und unglaublich ... schön. Zeit für ein schlechtes Gewissen.

Der Protagonist im Sextraum war ein guter Freund. Oder eine Arbeitskollegin, der Nachbar, die Supermark-Kassiererin. Irgendeine Person, von der du dich im Wachzustand eigentlich nicht unbedingt angezogen fühlst, was das Ganze umso verstörender macht. Und was jetzt? Beziehung beenden und mit der Supermarkt-Kassiererin durchbrennen?

Die einen lassen sich stark verunsichern, meinen, versteckte Botschaften sehen zu können, stellen ihre Beziehung infrage. Die anderen tun ihn als belanglosen Traum ab und verschwenden nicht länger Zeit damit. Die Frage, ob das Unterbewusstsein Streiche spielt oder doch irgendwo unterdrückte Gefühle sind, lässt sich allerdings nicht leicht beantworten.

"Fakt ist, dass Traumdeutung anhand standardisierter Symbole längst verjährt ist," sagt Psychotherapeut und Mentalcoach Dr. Karl Werner Ehrhardt. Deutungsdatenbanken im Netz gibt es etliche, sie verbinden bestimmte Objekte oder Erlebnisse im Traum mit spezifischen Sinngehalten. Doch Kassierer*innen sind per se keine Symbole für Besitzanspruch, genauso wenig wie ein Supermarkt auf Unversöhnlichkeit oder Alltagschaos hindeutet. Festgelegte Bedeutungen gibt es nach Ehrhardt nicht, ausschließlich der oder die Träumende darf interpretieren. Mehr noch: "Jeder, der behauptet, Träume anderer deuten zu können, ist ein Scharlatan", sagt Ehrhardt .Und jeder, der seriös und professionell arbeitet, müsse in der Traumdeutung-Assistentenrolle bleiben.

Erotische Träume mit Personen außerhalb der eigenen Beziehung sind vielleicht irrsinnig und verstörend – aber nicht verwerflich. Im Gegenteil: Der Traum gehört ausschließlich der schlafenden Person selbst. Bei so viel Freiheit träumen wahrscheinlich nur die wenigsten von Sex mit dem oder der eigenen Partner*in. Im Traum kann man doch alles und jeden haben.

Schlechte Nachricht #1: Ob der Sextraum überhaupt eine tiefergehende Bedeutung hat, muss (leider) jede*r für sich selbst interpretieren. Das Schwere daran ist, dass Träume gerne Verschlüsselungscharakter haben. Das Unterbewusstsein codiert sie, um uns zu schützen. Denn im Traum gibt es streng genommen keine Realität. Sie ist im wahrsten Sinne des Wortes ver-rückt, Raum, Zeit und Logik fallen durcheinander – auch wenn der Traum noch so real erscheint.

Schlechte Nachricht #2: Auch ob ein Traum verschlüsselt ist oder nicht, muss jeder für sich selbst herausfinden. Die erträumte Person steht vielleicht gar nicht für die leibhaftige Nachbarin von nebenan, sondern stellvertretend für jemand oder etwas anderes. Um das herauszufinden, schlägt Ehrhardt vor, sich selbst von außen zu betrachten, alle aufkommenden Fragen zuzulassen, und sie sich selbst ehrlich zu beantworten.

Um Träume deuten zu können, empfiehlt er folgendes Vorgehen: Wichtig ist, auf die Details zu achten; auf die Gefühle im Traum oder sich wiederholende Handlungsmuster. Ehrhardt nennt es ein kreatives Spiel zwischen Unterbewusstsein, Wach-Bewusstsein und Eigeninterpretation.

Prinzipiell können Träume drei unterschiedliche Formen annehmen: realistische Wunschvorstellungen, reine Ereignisverarbeitung und tatsächlich unterbewusste Botschaften. Die wären einfach zu unterscheiden, wenn sie nicht auch alle verschlüsselt sein könnten. Verdammt!

Wunschvorstellungen

Findet der oder die Schlafende die Person X auch im Wachzustand rattenscharf, dann besteht ohnehin bereits eine Art virtuelle Beziehung. In dem Fall ist der Sextraum wahrscheinlich nicht verschlüsselt. Es gibt keine verstecke Symbolik, denn der*die Träumende ist sich bewusst, dass er*sie sich zu Person X auch im echten Leben hingezogen fühlt. Das ist auch im Traum klar erkennbar. Der Kopf verarbeitet diese Anziehung bloß fantasievoll und mal mehr, mal weniger realistisch ausgeschmückt. Dann überrascht es auch nicht, wenn Person X häufiger im nächtlichen Kopfkino auftaucht. Das ist aber noch kein Grund, das eigene Leben auf den Kopf zu stellen.

Ereignisverarbeitung

Personen oder Ereignisse, die auf irgendeine Weise Eindruck hinterlassen haben, verarbeitet der Kopf im Schlaf. Gerne in Kombination und oft so schräg, dass sie nicht mehr als solche erkennbar sind. Real erlebte Szenen der vergangenen Tage können gepaart mit einer Sehnsucht nach was auch immer – sei es nach Urlaub, Geld, Liebe, Essen – ein buntes Mischmasch ergeben, auch einen erotischen Traum. Bei näherer Auseinandersetzung hat diese Erotik allerdings nur mehr wenig mit dem real Erlebten zu tun.

Der geträumte Sex mit der Arbeitskollegin muss demnach nicht zwangsläufig mit ihr zusammenhängen. Ein interessantes Gespräch im Büro am Vortag kann sich in Verbindung mit dem zuletzt gesehenen Film zum erotischen Traum vermischen. Das plakativ zu deuten oder allzu ernst zu nehmen, wäre zu schnell geschossen.

Unterbewusste Botschaften

Manchmal versucht unser Gehirn tatsächlich anhand von Sex-Träumen, Emotionen besser zu verarbeiten. Unterbewusste Botschaften richtig zu interpretieren, heißt allerdings geträumte Gefühle und Sinnbilder zu entschlüsseln. Ist das gelungen und sind sie dem Lebensalltag zuordenbar, wäre laut Ehrhardt auch die Frage nach der Zufriedenheit in der eigenen Beziehung berechtigt. Geht es nur um Abwechslung, oder hat der oder die Träumende tatsächlich unbefriedigte Sex-Fantasien im Kopf?

Kommen häufig die gleichen Personen oder Sexpraktiken vor – manche Menschen haben über 40 Jahre lang denselben Traum – darf die eigene Zufriedenheit in der derzeitigen Lebenssituation schon mal hinterfragt werden. In diesem Fall kann es sein, dass das Unterbewusstsein etwas mitteilen möchte, was sich die Person selbst nicht eingestehen möchte. Es sagt: "Hey, du hat noch diese offene Baustelle und du solltest das Thema endlich mal bearbeiten." Das Wach-Bewusstsein traut sich hingegen nicht. Viele Menschen haben ein derart strenges Normensystem, dass sie eine ehrliche Auseinandersetzung mit dem Traum gar nicht zulassen. Unterdrücken und Verdrängen ist allerdings genau so legitim, die Entscheidung liegt bei dem oder der Träumenden.

Das Unterbewusstsein ist immer auf unserer Seite

Als Hilfestellung zur Interpretation nutzt Ehrhardt einen Deutungsleitfaden, den der US-amerikanischen Autor James entwickelt hat. "Mein Unterbewusstsein ist immer auf meiner Seite. Um herauszufinden, was es mir sagen will – für die Entschlüsselung – gehört ungeheuer viel Mut." Denn zur Beantwortung bräuchte es brutale Ehrlichkeit vor sich selbst, unter Umständen wird man dabei mit Dingen konfrontiert, die sehr unangenehm sind. Und auch wenn man am Ende des Fragebogens nur teilweise schlauer ist, würde das reichen. Mit dieser Teil-Erkenntnis heißt's dann wieder: ab ins Bett, wieder einschlafen und auf die nächste Erkenntnis warten. Das könne sehr befreiend wirken.

Ob Fremdgehen im Traum nun tatsächliches Fremdgehen ist, muss – und das ist die schlechte Nachricht #3 – wieder jeder selbst definieren. Punkte wie Häufigkeit, Verschlüsselung und die Gefühle im Traum sind wichtige Indizien, die der*die Träumende aber selbst interpretieren und verstehen muss. Kein Traumdeuter dieser Welt kann diese Arbeit abnehmen.