Wie wichtig ist Sex für eine Beziehung? "Er wird erst dann wichtig, wenn er nicht mehr passiert", sagt Stefan Woinoff, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie. Er betreibt seit 1993 eine Praxis in München und hat häufig mit Paaren zu tun, bei denen zumindest eine*r darüber klagt, dass der Sex zu kurz kommt. Es gibt entgegen landläufiger Meinungen – zweimal die Woche sei normal – keine Anzahl, wie häufig Paare miteinander schlafen sollten. "Wenn kein Sex da ist und beide sind damit zufrieden, ist alles okay", sagt er.

Das ist allerdings selten der Fall. Fast immer möchte eine*r häufiger als die*der andere. Wie bei Marcel*, 26, der ze.tt sein Leid in einer anonym verschickten E-Mail geschildert hat.

Marcel*, 26

In den ersten Wochen unserer Beziehung waren meine Freundin und ich eigentlich nur im Schlafzimmer. Der Sex war immer gut. Beide sind voll auf ihre Kosten gekommen. Mit der Zeit wurden diese Bettaktivitäten jedoch weniger. Jetzt sind wir bei vielleicht viermal im Jahr angekommen.

Wie es dazu kam? Es war immer ich, der den ersten Schritt machen musste. Das war so lange kein Problem, bis sie mich immer öfter zurückwies. Je öfter ich zurückgewiesen wurde, desto größer wurde der Schmerz und ich versuchte es daraufhin seltener.

Kein Verlangen

Ich habe mit meiner Freundin gesprochen und ihr gesagt, dass ich darunter leide. Ihre Antwort war, dass sie eben nicht das Verlangen hat. Damit ist dieses Thema in einer Sackgasse angekommen. Ich liebe meine Freundin und respektiere, dass ich Verlangen und Lust nicht einfordern kann. Ich möchte sie nicht unter Druck setzen.

Ich muss mehrmals die Woche selbst Hand anlegen, damit mich dieses Thema nicht zerfrisst.

Wenn ich mit Freunden darüber rede, sind sie entsetzt und ich bekomme den Ratschlag, eine Affäre zu beginnen. Fremdgehen war für mich aber nie eine Option. Doch ich merke, was die Hormone mit mir als Kerl Mitte 20 anstellen. Ich muss daher mehrmals die Woche selbst Hand anlegen, damit mich dieses Problem nicht zerfrisst. Denn es zerfrisst mich wirklich. Meine Freundin weiß nichts davon und ich werde ihr das auch niemals sagen.

Ein Tabuthema

Marcels Verhalten ist für Woinoff verständlich, aber auch gefährlich. Weil er abgewiesen wird, fühlt er sich verletzt. "Irgendwann hört man auf, darüber zu sprechen oder sich zu berühren", sagt er. "Sex wird dann zum Tabuthema."

Dabei ist Woinoff der Meinung, dass die*der abgelehnte Partner*in das Recht darauf hat zu erfahren, was wirklich dahintersteckt. "Es ist nicht selten so, dass ein Partner auf anderen Ebenen Probleme mit seinem abgelehnten Partner hat und es dann auf sexueller Ebene auslebt", sagt Woinoff. Nicht zum Sex bereit zu sein, sei dann eine Art Bestrafung.

Auch Andrea Bräu, systemische Paar- und Sexualtherapeutin mit Praxis in München, rät dringend dazu, aus Sexlosigkeit kein Tabuthema in der Beziehung zu machen. "Wenn man da den Teppich drüberlegt, gärt es unter der Oberfläche trotzdem weiter."

Auch Krankheiten oder etwa der Tod eines Familienmitglieds können zur Lustlosigkeit führen. "Das ist eine andere Hausnummer", sagt Bräu, "aber man muss immer schauen, ob diese Menschen Sexualität überhaupt noch ausleben können und wollen oder ob sie sich nicht einfach hinter der Krankheit verstecken." Pauschal solle man das auf keinen Fall annehmen, aber es lohne sich ein ungeschönter Blick. Unter der Krankheit ihres Partners und der damit einhergehenden Sexflaute leidet auch Marina.

Marina*, 21

Ich bin seit vier Jahren mit meinem Freund, 26, zusammen. Seit etwa zwei Jahren wohnen wir zusammen. In dieser Zeit hatten wir vielleicht zweimal Sex. Ich denke mittlerweile, dass es viel mit seinem Vater zu tun hat. Er ist vor zweieinhalb Jahren an Krebs gestorben. Seitdem hat mein Freund ziemlich viel Marihuana geraucht und ist in eine Depression verfallen.

Am Anfang war unser Sex mega cool, dann wurde es immer weniger und irgendwann hatten wir gar keinen mehr. Sachen, die ihn früher angeturnt haben, interessieren ihn nicht mehr. Wenn ich nackt durch die Wohnung laufe, sieht er mich nicht mal mehr an. Wenn ich ihm näher komme und ihn berühre, schiebt er meine Hand weg und sagt: "Lass mich, ich will nicht, ich kann nicht."

Er liebt sie noch immer

Für mich fühlt sich das total schlecht an. Ich hab die ganze Zeit die Schuld bei mir gesucht. Ich fragte mich, ob es vielleicht an meinem Aussehen oder meiner Art liegt. Aber er sagt: "Das liegt nicht an dir." Er sagt, dass er Angst vor Sex hat, es sich nicht mehr zutraut und auch gar nicht daran denkt. Ich glaub auch nicht, dass er es absichtlich macht. 

Seit etwa einem halben Jahr hab ich es gar nicht mehr versucht. Ich würde damit nicht klarkommen, wenn er mich wieder abweist. Natürlich hatte ich oft den Gedanken, dass er eine andere haben könnte. Aber er hat mir immer versichert, dass er mich liebt und ich mir keine Sorgen machen muss. 

Ich fragte mich, ob es an meinem Aussehen liegt.

Sex ist sehr wichtig für mich, es fehlt mir total. Es ist eine große Belastung für mich, dass wir nicht miteinander schlafen. Einmal hätte ich ihn fast mit einem alten Klassenkameraden betrogen, aber ich habe es nicht übers Herz gebracht.

Wie es mit uns weitergeht, weiß ich nicht. Ich werde im Oktober zurück nach Hause ziehen. Irgendwann muss ich auch mal auf mich schauen. Ich will, dass wir dann für zwei Monate gar keinen Kontakt haben. Auch wenn sich das doof anhört, war er ja der Störfaktor, weswegen alles kaputt ist. Mal schauen, ob und wie es nach dieser Pause weitergeht. 

Von der Low-Sex- zur No-Sex-Phase

Marina und Marcel sind in einem unüblichen Alter für sexarme oder sogar sexlose Beziehungen. Woinoff zufolge kommt diese Phase meist später: wenn Kinder da sind, die Karriere im Vordergrund steht oder ein Hauskauf. "Ein Vater mit Mitte 30 und zwei Kindern im Vorschulalter sagte mal zu mir über sein Sexualleben: 'Wir bekommen die Zehnerkarte im Jahr nicht voll'."

Aus so einer Low-Sex-Phase könne, wenn dann noch weitere Schwierigkeiten in der Beziehung dazu kommen, eine No-Sex-Phase werden. "Und wenn dann ein Paar mehrere Monate bis Jahre keinen Sex mehr hatte, ist es fast unmöglich, ohne Hilfe durch Therapie da wieder einzusteigen." Eine Erfahrung, die auch Vera kennt.

Vera*, 30

Mein Mann, 33, und ich sind seit zwölf Jahren zusammen, fünf davon verheiratet. Wir haben zwei Töchter, eine ist dreieinhalb, die andere zehn Jahre alt. Das erste Tief kam nach der Entbindung der ersten Tochter. Die ersten vier Monate danach hatten wir gar keinen Sex, danach maximal einmal im Monat.

Ich bin mit 20 ungewollt schwanger geworden. Es war nicht so leicht für mich,  für jemanden anderen als mich da zu sein. Meine Gedanken drehten sich ständig um das Kind und den Haushalt, es fiel mir schwer, mich fallen zu lassen. Das Bedürfnis, mich sexuell befriedigen zu lassen, war weg. Am Anfang hab ich mich nicht getraut zu sagen: Ich hab keine Lust auf Sex. Stattdessen habe ich mich auf die Seite gedreht und gesagt: Die Kleine wacht gleich wieder auf. Auch mir selbst war es unangenehm, keine Lust auf Sex zu haben.

Wie reagiert ihr Partner?

Mein Mann hat mir Komplimente gemacht oder mich geküsst und mir so signalisiert, dass er mit mir schlafen möchte. Zu Beginn hat er auch ein wenig Druck aufgebaut und gesagt, dass es ihm weh tut und gefragt, ob es an ihm liegt oder an den Kindern. Aber mit der Zeit hat er ein Feingefühl dafür entwickelt. Er drängt mich zu nichts mehr. Mittlerweile merkt er, wenn ich für Sex empfänglich bin.

Meist passiert das, wenn wir abends auf der Couch liegen und die Kinder im Bett sind. Da reicht ein Blick oder ein Satz, wir laufen da auf derselben Spur. Jetzt haben wir vielleicht einmal im Monat Sex, manchmal können aber auch ein paar Monate ohne vergehen und dann ist es dreimal die Woche.

Für mich wäre es auch ohne Sex eine gute Beziehung.

Wir haben lange nicht wirklich über dieses Thema gesprochen, eigentlich erst nach der Geburt unserer zweiten Tochter. Ich finde es überhaupt nicht schlimm, keinen Sex zu haben, es gibt so viele andere Dinge, über die ich mich wertgeschätzt fühle und ich weiß, dass mein Mann mich attraktiv findet. 

Wenn ich keinen Sex haben möchte, ist das für mich keine Ablehnung ihm gegenüber. Ich würde auch nie mit ihm schlafen, wenn ich das nicht wirklich wollte. Ich habe Freundinnen, die das machen. Mein Mann sagt, dass es für ihn kein großes Problem ist, dass wir nicht so viel Sex haben. Ich könnte es total verstehen, wenn es so wäre, aber ich glaube ihm da vollkommen. Wenn es auf Dauer ein Ungleichgewicht wäre, müssten wir überlegen, wie wir es machen. Ich glaube, es wäre leichter für mich, die Beziehung zu beenden, statt sie zu öffnen – weil ich wüsste, dass es ein genereller Mangel ist, den ich nicht erfüllen kann. Aber zum Glück ist es nicht so. Es beruhigt mich total, dass ich weiß: Ich muss nicht, wenn ich nicht will.

Warum Sex für eine Beziehung so wichtig ist

Die schlechte Nachricht für Betroffene, die unter zu wenig Sex in der Beziehung leiden: "Es gibt da keine Pauschalantworten, dafür ist das Thema viel zu komplex", sagt Therapeut Woinoff. Er hebt aber die Bedeutung von Sex für eine Beziehung hervor. "Letztlich kommen Männer und Frauen evolutionär gesehen überhaupt nur wegen dem Sex, beziehungsweise der Fortpflanzung zusammen." Jede andere Tätigkeit könne innerhalb einer Paarbeziehung meist ohne Probleme outgesourced werden: Sport, Kultur, Gespräche, selbst Urlaube. "Jeder darf sich einen anderen, geeigneteren Partner dafür suchen, nur der Sex ist üblicherweise exklusiv und nur innerhalb der Partnerschaft erlaubt."

Wir sind oversexed und underfucked.
Stefan Woinoff, Facharzt für Psychotherapie

Darum fragt Woinoff Paare, die zu ihm in die Beratung kommen immer, ob sie noch Sex haben. "Wenn ja, ist die Prognose hinsichtlich des Zusammenbleibens gut, falls nein, eher schlecht." 

Was für manche Paare zur Hemmschwelle wird, überhaupt Sex zu haben, ist seine Überhöhung."Wir sind oversexed und underfucked", sagt Woinoff. Wir würden medial ständig mit Sex konfrontiert und dann soll er auch noch außergewöhnlich sein. Weil sich das eben in der Realität nicht erfüllen lasse, würden es manche Paare gleich ganz sein lassen. Es spricht nichts dagegen, sich auch einfach mal für Sex zu verabreden. "Wenn nur samstags Zeit dafür ist, muss man es eben dann machen."

Auch wenn es hart klingt, vielleicht kann fehlender Sex, wenn er nicht aus Krankheit oder Alter resultiert, auch eine Chance sein. In den seltensten Fällen gehe es nämlich wirklich nur um Sex, sondern darum, verdeckte Machtkämpfe oder alte Verletzungen aufzudecken, sagt Bräu. "Eine echte Ausseinandersetzung zu diesen Themen kann die Beziehung wachsen lassen."

* Namen geändert