Mit Russland an sich, mit seiner Politik und Kultur, hatte ich mich vor der Austauschfahrt kaum auseinandergesetzt.

Meine Meinung war von den Medien und deren alltäglichem Putin-Bashing bestimmt. Erst wenige Monate vor meinem Schüleraustausch las ich über Verfolgungen und Morde von Schwulen in Tschetschenien im russischen Einflussgebiet. In der selben Zeit gingen die Bilder von gewalttätigen Verhaftungen auf den Anti-Korruptionsdemos durch die sozialen Netzwerke.

Ich wusste, dass ich mich als politischer Aktivist und Befürworter jeglicher Gleichstellung von Homosexuellen, in diesen sieben Tagen mit meiner Meinung etwas zurückhalten müsste.

Eine Begegnung mit zwei russischen Kriegsveteranen

Der gesamte Schüleraustausch stand vor dem historischen Leitgedanken des Erinnerns, Gedenken, Versöhnens, unter dem wir uns in der Schule mit dem Zweiten Weltkrieg beschäftigten. Deshalb verbrachten wir drei Tage in der Kleinstadt Rschew: Hier wütete vor über 75 Jahren eine der blutigsten Schlachten des Krieges, bei der sich weit über eine Millionen Menschen gegenüber standen. Rschew ist nach Stalingrad der bekannteste Kriegsschauplatz in Russland.

Auf dem deutsch-russischen Soldatenfriedhof erzählten uns zwei Kriegsveteranen über ihre tragischen Erlebnisse im Zweiten Weltkrieg. Der eine war ehemaliger weißrussischer Partisan und der andere Soldat in der Roten Armee. Beide fast 100 Jahre alt und dem Tod nur knapp entkommen.

Bei ihren Erzählungen betonten sie immer wieder, dass sie gegen die Faschist*innen gekämpft hätten – sie setzen sie dabei nicht mit den Deutschen gleich. Und dennoch, obwohl sie mit ihren Kamerad*innen halb Europa von den Nazis befreiten und viele Freund*innen im Krieg verloren, fragen sie sich bis heute, ob sie Helden oder Verbrecher sind.

In einer russischen Schule erlebten wir, was es in einer deutschen niemals gäbe

Auch in der Schule von Rschew begegneten wir wieder dem Zweiten Weltkrieg. Im ganzen Flur hingen Malereien, auf denen deutsche Wehrmachtssoldaten als blutrünstige Hunde oder gar Monster dargestellt wurden. Aus dem deutschen Geschichtsunterricht kenne ich solche Emotionalisierungen und Zuspitzungen gar nicht. Wahrscheinlich, weil gerade wir Deutschen eher leise und still gedenken und uns immer wieder der Verantwortung bewusst machen, dass sich ein solches Ereignis nie wiederholen darf.

Erst in der russischen Gastfamilie, in der mir die Großmutter Fotos von ihrem im Krieg gefallenen Vater zeigte, verstand ich, dass sich in fast jeder Familie ein solch leidvolles Schicksal finden lässt. Dadurch steigt natürlich die Wahrnehmung für das wohl dunkelste Kapitel der Menschheitsgeschichte und man geht in den Schulen eher emotional als sachlich an das Thema heran.

Erschreckend waren für uns die Fotos, die neben den Malereien hingen. In einer ganzen Bildergalerie werden dort russische Schüler*innen mit Waffen gezeigt. Auf dem einen nehmen sie Kalaschnikows auseinander, auf dem anderen sieht man sie auf Zielscheiben schießen. Bei uns unvorstellbar. Unvorstellbar zum einen, dass Kinder und Jugendliche Waffen in die Hand nehmen und zum anderen, dass solche Fotos in Schulen ausgestellt werden.

Irgendwie passte das auch in mein Bild vom militaristischen und patriotischen Russland. Doch es gibt auch den Gegenpol zu diesem für mich bestätigten Klischee vom Putinkult und Nationalstolz.

In Moskau durfte ich Andrey kennenlernen. Er besucht dort die Deutsche Schule und ist keineswegs Putin-Freund. Zusammen mit Tausenden jungen Russ*innen protestierte er bereits öfters bei Anti-Korruptionsdemos in der russischen Hauptstadt und lässt sich auch von der Polizeigewalt und den Hunderten Verhaftungen nicht abschrecken. Außerdem weigerte er sich trotz Wehrpflicht in die russische Armee einzutreten, weshalb bereits sein Pass eingezogen wurde und er Russland nicht mehr verlassen darf.