Deborah hatte nach ihrem Abi wohl dieselben Gedanken wie viele in ihrem Alter: was jetzt? Statt gleich zu arbeiten oder ein Studium zu beginnen, siegte das Fernweh. Sie wollte etwas Neues erleben. Sie packte also ihre Sachen, darunter ihre Kamera, und fand ihren Weg nach Nairobi, Kenia, wo sie bei einer Gastfamilie unterkam. Ohne es vorher geplant zu haben, wird sie die folgenden drei Monate dort verbringen.

Vor Ort erzählte sie den Einwohner*innen über ihr Leben in Deutschland. Diese waren allerdings an etwas anderem interessiert. An etwas, das Deborah nicht so einfach formulieren konnte. Wie sie schnell herausfand, glauben die Menschen in Nairobi daran, dass jede*r eine Leidenschaft in sich trägt, die es zu entdecken gilt, einen Traum, nach dessen Erfüllung man streben soll. Daher war die Frage, die Deborah am häufigsten gestellt wurde nicht wie in Deutschland was sie später mal studieren wolle, sondern: Was ist deine Leidenschaft, wofür brennst du, für was würdest du alles riskieren?

"Ich habe keine Ahnung, was ich da eigentlich mache"

"Die Frage tat gut, auch wenn sie mich überforderte", sagt Deborah. Denn sie würde während des gesamten Aufenthalts mitschwingen und die 19-Jährige nicht mehr loslassen. Eigentlich wusste sie es insgeheim von Anfang an: Fotografieren. Fotografieren ist Deborahs Leidenschaft. Ihre Angst vor Vorurteilen und Antriebslosigkeit hinderte sie aber bis zu diesem Zeitpunkt daran, es auszuleben. Lieber versteckte sie sich hinter Sätzen wie: Aber ich mach das nur hobbymäßig, oder: Das ist nichts Ernstes.

Ihre Gastfamilie ließ das nicht gelten. Im Gegenteil: Sie ermutigte Deborah immer wieder dazu, ihre Kamera mitzunehmen, sich nicht einschüchtern zu lassen. Einfach auf die Straße zu gehen und das Leben in Kenia zu fotografieren.

Leicht war das nicht. "Ich wollte niemandem zu nahe treten. Ich wusste ja auch nicht, wie das in deren Kultur so üblich ist, da nicht viele Leute mit einer Kamera rumlaufen und ich nicht als überhebliche Europäerin rüberkommen wollte, die nur dorthin kommt, um Fotos zu machen." Daher beschloss Deborah, keine Streetlife-Fotografie zu machen. Zu zeigen, wie schwer es manche Leute haben, wie sie leiden oder darum kämpfen, ein wenig Geld nach Hause zu bringen, oder am Straßenrand sitzen und Klamotten für lächerlich günstige Preise anbieten. Es fühlte sich irgendwie nicht nützlich an. Stattdessen wollte sie lieber die schöne Seite zeigen. Wie die Menschen dort ihren Alltag regeln, wie sie ihre Familien lieben, wie sie lachen und wie sie leben.

Alles war so anders

Deborah begann, sich freiwillig in Schulen zu engagieren. Die Schüler*innen, die sie in den Highschools, Grund- und Vorschulen kennenlernte, waren anders als die in Deutschland. "Irgendwie haben sie mich fasziniert und so gar nicht an Kinder, die ich aus Deutschland kenne, erinnert. Sie waren so froh, lernen zu dürfen und Geschichten von mir zu hören." Tell us a story, war einer der Standardwünsche der Kinder. "Sie waren so voller Liebe für eine Fremde, die ganz anders zu sein scheint als sie", erzählt Deborah.

Es gab Zeiten, da hat sich Deborah ein bisschen für ihre Nationalität geschämt. Zum Beispiel dann, als ihr erzählt wurde, dass Deutschland in Kenia als eines der rassistischsten Länder gilt. Dass die deutsche Kaltherzigkeit viele Einwanderer*innen zur Rückkehr nach Kenia bringt, und das trotz des guten Jobangebots. "Das hat mich sehr zum Nachdenken gebracht. In Nairobi sind die Menschen wirklich warmherzig. Jedes Haus, das ich betrat, wurde mir als mein Zuhause vorgestellt. Menschen wurden meine Familie."

So viel Innigkeit wurde Deborah dann doch manchmal zu viel. Dann wünschte sie sich die vollen Straßen Berlins zurück, wo es den Menschen egal ist, wie sie aussieht, welche Kleidung sie trägt oder wie sie sich verhält. "Diese Toleranz oder Gleichgültigkeit – je nachdem wie man es auslegen möchte – hat mir oft gefehlt. Ob das kaltherzig ist? Es war einfach ein großer Kulturunterschied, an den ich mich gewöhnen musste", sagt sie. Das bewegte Deborah manchmal dazu, ein wenig in sich zu kehren, stiller zu sein, über sich nachzudenken. Denn sie habe es nicht geschafft, den Erwartungen der ständigen Zuneigung und den des kommunikativen Alltags gerecht zu werden. Du bist nicht so sozial, oder?, Man merkt, dass du nicht wirklich gesprächig bist, Warum bist du so schüchtern?, waren die Reaktionen darauf aus ihrem Umfeld.

Einfache Frage, schwere Antwort

Als Deborah eines Nachmittags mit ihren Host-Eltern und deren Kindern von der Schule nach Hause fuhr, sagte die zehnjährige Tochter etwas, dass den Start ihres Fotoprojekts einläuten sollte: "Ich verstehe nicht, was mit jungen Leuten passiert, die älter werden und dann weniger gesprächig sind. Vielleicht gewöhne ich mich in einem Monat oder so an dich."

Das schlug ein. Deborah wusste, es war nicht böse gemeint. Zum Nachdenken hat es sie trotzdem gebracht, denn irgendwie hatte das Mädchen ja recht. Werden wir mit dem Alter weniger gesprächig, weil wir das Gefühl bekommen, unsere Worte hätten keine Auswirkungen mehr? Weil wir denken, es höre ohnehin keiner zu? Später sollte sich daraus diese eine Frage entwickeln, die Deborah nicht mehr losließ: Was würden wir sagen, wenn die ganze Welt zuhören würde? Wie ihre neuen Freund*innen und Familienmitglieder in Nairobi, die in einer so unterschiedlichen Kultur als die Deutschen leben, so eine Frage wohl beantworten würden? Eine Frage, die genau wie die so oft gestellte nach der persönlichen Leidenschaft, nicht gerade einfach zu beantworten war – weder für Kinder noch für Erwachsene.

Deborah verwendete ihre restliche Zeit in Nairobi dazu, Menschen zu porträtieren, denen sie diese Frage stellte. "Es war aber immer wieder erstaunlich, was die Kinder sagten und auf was für Ideen sie kamen. Oft musste ich grinsen." Zum Beispiel, wenn jemand die ganze Welt zu ihrem Geburtstag einladen wollte, oder dass alle einfach mehr spielen sollten. Andere Antworten machten sie wiederum traurig, weil sie die Angst und Verbitterung von Menschen herauslesen konnte, die von der restlichen Welt vergessen wurden.

Grundsätzlich hätten kleine Kinder positiver geantwortet. Je älter die Personen waren, desto mehr kamen Themen wie Korruption, Armut, Umwelt oder Tod auf. Während Kinder recht schnell wussten, was sie der ganzen Welt sagen würden, waren die Erwachsenen überlegter in ihren Aussagen. Die baten sie manchmal um mehr Zeit und fanden erst am nächsten Tag eine passende Antwort. "Da habe ich mir oft gedacht: Wieso nicht einfach wieder wie ein Kind sein? Weniger kompliziert, weniger kritisch, weniger misstrauisch."

Am Ende entstand ein Projekt, von dem sich Deborah wünscht, dass es mehr Verständnis und Toleranz und damit ein Zusammengehörigkeitsgefühl in die Welt hinausträgt. "Es wäre schön, wenn sich der eine oder andere in einer der Antworten wiederfinden würde. Außerdem würde ich es mir wünschen, dass sich alle über diese Frage selbst mal Gedanken machen und ein eigene Antwort finden würde", sagt Deborah. Denn was man der ganzen Welt sagen würde, könne man auch erst mal den Menschen in seinem Umfeld sagen. Denn man kann sich schließlich nur etwas wünschen, wenn man anfängt, darüber nachzudenken, wie man die Wünsche anderer erfüllen kann.

Deborah selbst hat nach Nairobi begonnen, mit Interrail durch Osteuropa zu reisen, wo sie jetzt immer noch ist. Sie hat sich zwar für mehrere Unis beworben, möchte aber ihre Zeit bis zum Wintersemester 2018 lieber mit Freiwilligenarbeiten, Praktika, Jobben und Reisen verbringen. Um etwas mehr Abstand zu Erwartungen und auch zu unserer Leistungsgesellschaft zu kriegen, wie sie sagt. Die Zeit in Nairobi habe sie verändert. Sie merke jetzt, wie schnell die Leute in unserer Gesellschaft aufgrund von Kleinigkeiten die Nerven verlieren. Das mache sie traurig und wütend.

Auf die Frage, was sie selbst sagen würde, wenn die ganze Welt zuhören würde, sagt sie: "Niemand sollte sich das Recht herausnehmen, aufgrund der Herkunft, auf die niemand Einfluss hat und aufgrund der eigen erstellten Rangordnung, die überhaupt nicht existiert, darüber entscheiden zu wollen, wie die Zukunft und das Leben anderer auszusehen hat."