Christian Sievers macht mit seinem Kunstprojekt "Hop 3" auf die Massenüberwachung aufmerksam. Und stellt die Frage: Wollen wir ein Leben führen, in dem wir uns nicht mehr trauen, eine Handynummer anzurufen?

37 Jahre lang arbeitete William Binney für die NSA. Im Jahr 2001 war es ihm genug: als Protest gegen die Massenüberwachung stieg er aus. Mittlerweile klärt er über die Machenschaften der NSA auf, er wurde zum Whistleblower. Es ist also mehr als plausibel, dass die NSA ein großes Interesse daran hat, zu wissen, was Binney so macht – und mit wem er Kontakt hat.

Genau das nutzt Christian Sievers, Künstler und Lehrender an der Hochschule für Medien in Köln, für sein Kunstprojekt "Hop 3" aus. Über einen Kontakt gelangte er an die direkte Nummer von Binney, erzählt der 41-Jährige, der lange Zeit als Systemadministrator gearbeitet und Datenbanken programmiert hat. Er habe sich daraufhin ein Billigtelefon gekauft und eine Sim-Karte vom Discounter besorgt. Die Nummer des Handys: +49 174 276 6483.

Die steht jetzt auf 200 Litfaßsäulen in Köln und auf Plakaten in Karlsruhe. In schwarz auf gelbem Hintergrund. Es ist schwierig, sie im Vorbeizulaufen zu übersehen. Die Gestaltung des Plakats sei so, dass jeder genau wisse, wen er da anrufe und was dann passiert, so Sievers.

Aber was passiert, wenn Passanten die Nummer wählen?

Wer die Nummer anruft, so der Künstler weiter, würde in Verbindung mit Binney gebracht und geriete selbst ins Visier der NSA. "Aufgrund seiner Vorgeschichte ist anzunehmen, dass sämtliche mit ihm in Verbindung gebrachten Daten vollständig und dauerhaft gespeichert werden", schreibt er auf der Website zum Projekt. Mit dem Discountertelefon habe Sievers den Whistleblower direkt angerufen. Deshalb könne davon ausgegangen werden, dass die Nummer +49 174 276 6483 nun ebenfalls überwacht werde. Und mit ihr wiederum jeder, der unter der Nummer anruft.

Wer die Nummer wählt, werde Teil des so genannten sozialen Graphen Binneys. Sievers erklärt das so: "Angenommen, eine Person gerät – aus welchem Grund auch immer – in den Fokus der Geheimdienste. Um mehr über diese Person zu erfahren, erstellen die Dienste als erstes einen sozialen Graphen. Dieser umfasst nicht nur die Telefongespräche der überwachten Person, sondern auch ihre E-Mails, Kurznachrichten oder Kontakte in sozialen Medien."

Die NSA habe zugegeben, den sozialen Graph einer Zielperson über drei Sprünge, sogenannte Hops, zu untersuchen. Sievers erklärt: Das ausgestellte Handy ist ein direkter Kontakt von William Binney, also Hop 1. Wer dieses Handy von seinem Telefon aus anruft, ist ein Kontakt zweiten Grades – Hop 2. Auch diese Kontakte landen, so Sievers, auf der Liste der zu überwachenden Personen. Es gehe aber noch weiter: der dritte Hop werde auch noch überwacht. Das sind dann die Freunde, Familie und alle sonstigen Kontakte des Anrufers – über alle Kommunikationswege hinweg. "Wenn man das Handy anruft, zieht man also locker mal 1000 persönlichen Kontakte mit rein", sagt Sievers.

Hendrik Speck, Professor für Digitale Medien an der Hochschule Kaiserslautern, bestätigt, dass es diese Mechanismen der Überwachung gibt. "Solche initialen Kontaktanbahnungen über die unterschiedlichen Medien hinweg können durchaus Indikator sein, allerdings werden sie auch noch in Hinblick auf Intensität, Häufigkeit, Dauer, Thematik, Austausch, Umfeld und weitere Faktoren qualifiziert." Es wird also geschaut, ob es einen einmaligen oder regelmäßigen Kontakt gab, ob es Überschneidungen und Verknüpfungen im sozialen Umfeld gibt und wie die weiteren Aktivitäten des Anrufers aussehen. Das alles geschehe automatisiert auf Grundlage von komplexen Algorithmen, erklärt Speck.

Diese Algorithmen entscheiden dann darüber, was mit den Daten passiert: Grundsätzlich müsse man zwischen der reinen Aufzeichnung und den unterschiedlichen Formen der Auswertung unterscheiden, sagt Speck. Aufgezeichnet werde von Geheimdiensten meist so viel wie möglich, damit im Bedarfsfall noch darauf zugegriffen werden kann. Wie bei Suchmaschinen bilde diese Gesamtheit die Grundlage für automatisierte Verfahren auch der Erkennungsdienste. Durch Menschen wirklich gelesen, belauscht oder ausgewertet könne und werde jedoch wesentlich weniger Material – nicht zuletzt aufgrund des ansonsten enormen Aufwandes.

Wer deine Metadaten hat, kennt dich gut

Es ist jedoch gar nicht nötig, die Inhalte von Nachrichten zu analysieren, um viel über eine Person zu erfahren. Auch das macht Sievers Kunstprojekt deutlich. Es geht um Metadaten, also nicht den eigentlichen Nachrichteninhalt, sondern die Daten über die Kommunikation: zum Beispiel Sender, Empfänger, Standort, Uhrzeit. Aus denen setzt sich ein sozialer Graph zusammen.

Um genau diese Metadaten geht es auch bei der Vorratsspeicherung, die im vergangenen Monat vom Bundestag beschlossen wurde. Zehn Wochen lang dürfen die Daten vom Anbieter gespeichert werden, Standortdaten für maximal vier Wochen. Verteidiger der Gesetzgebung kommen gerne mit dem Argument, dass diese Daten wenig aussagen – schließlich bleibe der eigentliche Inhalt der Nachricht ja verdeckt. Das ist aber falsch: Metadaten sind einfach zu verknüpfen und günstig speicherbar, es lassen sich mit geringem Aufwand Bewegungsmuster erstellen. Wer über die Metadaten einer Person verfügt, weiß nicht nur, wer diese Person ist, sondern auch wann, von wo und mit wem sie wie lange telefoniert hat. Sie lassen auch Rückschlüsse auf soziale Beziehungen und persönliche Details zu.

Wie viel Metadaten über eine Person aussagen, zeigt dieses Experiment, in dem Ton Siedsma eine Woche lang alle Metadaten seines Telefons gespeichert und ausgewertet hat.

"Wir haben keine Angst!"

Trotzdem steht auf den gelben Plakaten in schwarzer Schrift: "Wir haben keine Angst!" Und genau hier liegt das Unbequeme an der Aktion von Sievers. Er wirft damit die Frage auf, ob wir wirklich ein Leben führen wollen, in dem wir uns davor scheuen, vollkommen normale Dinge zu tun, wie eine Handnummer anzurufen. Das Projekt sei eine Gelegenheit, trotz Totalüberwachung sich nicht einschüchtern zu lassen.

"Im Grunde stelle ich den Leuten eine Falle: wenn sie nicht anrufen, dann müssen sie mit sich selber aushandeln, ob sie nicht schon eingeschüchtert sind. Wenn sie anrufen, werden sie mit Binney in Verbindung gebracht und hinterlassen eine Datenspur", sagt er. Gleichzeitig sei "Hop 3" aber ausdrücklich nicht als Empfehlung zu verstehen, sich völlig ungeschützt durch das Netz zu bewegen.

Das Billighandy von dem Sievers Binney angerufen hat, liegt derweil in einer Vitrine der Ausstellung "Global Control and Censorship" vom Zentrum für Kunst und Medientechnologie in Karlsruhe. Da klingelt es immer, wenn irgendwer sich wieder traut, die Nummer auf der Litfasssäule zu wählen. Wie viele Anrufe es mittlerweile sind, kann Sievers nicht genau sagen: "Sicher im höheren dreistelligen Bereich – aber bei 99 entgangenen Anrufen hat es aufgehört zu zählen."