Wer liest, wird empathischer, schreit es von allen Seiten. Und: Wer empathisch wird, ist ein besserer Mensch. Aus der Deskription wird dann schnell ein Imperativ. Lies! Sei empathisch! Werde besser! Diese Tendenz ist grundfalsch und doch Inbegriff unserer Zeit. Die Welt verkündete vergangene Woche "den positiven Nebeneffekt des Lesens", ze.tt titelte im Oktober "Fiktionale Literatur macht uns zu besseren Menschen" und die Süddeutsche Zeitung erklärt "Wie Lesen uns zu besseren Menschen macht".

Die zitierten Artikel berufen sich auf wissenschaftlichen Studien. So verkündet zum Beispiel das Science Magazine, fiktionale Literatur verbessere die Fähigkeiten, sich in andere Menschen hineinzuversetzen. Der Kognitionspsychologe Keith Oatley veröffentlicht in der Fachzeitschrift Trends in Cognitive Sciences die These, das Lesen von Belletristik stärke das Verständnis für andere Menschen.

Die Begründungen lauten ähnlich: Beim Lesen von Romanen müsse man sich in andere Figuren hineinfühlen, sich mit unterschiedlichen Charakteren identifizieren und verschiedene Handlungsmotive nachvollziehen. Lesen ersetze somit wirkliche Erfahrungen. Es zeigt uns, wie es ist, in einem anderen Kopf zu sein. So sollen Lesende auch im wirklichen Leben in der Lage sein, verschiedene Standpunkte einzunehmen und Dinge aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten.

Lesen kann uns in Krisen stürzen und verunsichern."

Wie alle wissenschaftlichen Studien, werfen auch diese ihre Probleme auf. Etwa liegen oft keine Ursache-Wirkung-Verhältnisse vor, sondern bloße Korrelationen. So weiß man am Ende nicht: Stärkt das Lesen die Empathie oder neigen empathische Menschen dazu, mehr zu lesen? In einigen der Studien wird lediglich bewiesen, dass Geschichten soziales Geschick fördern. Über welches Medium diese Geschichten jedoch konsumiert werden, ob durchs Fernsehen, Radio, Erzählen, Computerspiele oder eben Bücher, ist irrelevant.

Sind empathische Menschen automatisch bessere Menschen?

Das größte Problem liegt jedoch darin, dass Journalist*innen gerne die Begriffe Empathie und guter Mensch gleichsetzen. Zwar scheint es durchaus plausibel, dass Lesen den Denkraum erweitert und somit die Toleranzschwelle verschiebt. Lesen schafft Beweglichkeit, im Urteilen, Abwägen und Handeln. Aber wer ist auf die Idee gekommen, dass eine ausgeweitete Toleranzzone einen guten Menschen macht?

Viel näher liegt die Vermutung, dass mehr Spielraum auch mehr Platz für das Böse bedeutet. Der Germanist Fritz Breithaupt warnt vor den negativen Effekten, die Empathie mit sich bringen kann. Ein großes Einfühlungsvermögen kann egoistisch und manipulativ genutzt werden. Nur wer weiß, wie sich bestimmte Dinge anfühlen, kann andere bewusst damit quälen.

Außerdem können Bücher relativieren und gleichgültig machen. Wer liest, ist in der Lage, jede noch so schlechte Handlung mit guten Argumenten zu verteidigen. Dass es das Ziel von Literatur sein soll, sozialere Menschen zu schaffen, ist nicht nur falsch, sondern führt im schlimmsten Fall zum Ausschluss all der Literatur, die dieses Ziel nicht erreicht. Denn was ein guter Mensch ist, entscheidet immer noch die gesellschaftliche Norm. Dass Empathie per se gut sei, scheint heute Konsens, ist aber deshalb noch lange nicht wahr.

Netter Mörder

Wer liest, kann nicht umhin, sich auch mit einem*r Mörder*in zu identifizieren. Wer liest, fiebert stundenlang mit dem Stasi-Spitzel mit, lacht und weint mit dem*der notorischen Fremdgeher*in. Nach jenen Verschmelzungserlebnissen, die die Lektüre verschafft, sehen sich die Lesenden womöglich geneigt, Personen mit ähnlichen Charakterzügen im eigenen Bekanntenkreis weniger scharf zu verurteilen.

Beim Lesen verschieben sich Grenzen – und nicht nur in die Richtung, die man gemeinhin die gute nennt."

Dabei passen die Begriffe gut und böse gar nicht in eine Diskussion über Literatur. Oft zerbersten ja gerade Romane mit aller Kraft diejenigen Kategorien, nach denen wir gewöhnlich die Welt ordnen. Würde Lesen einfach nur besser machen, wäre das schlimm, weil es der Literatur ihre vielfältigen Möglichkeiten zum Widerstand gegen das rauben würde, was als besser gilt.

Wir sollten nicht lesen, um netter, toller, glücklicher zu werden. Wer in seinem Leben auch nur ein gutes Buch gelesen hat, weiß, dass Lesen verstört. Dass Lesen uns in existenzialistische Krisen stürzen kann. Dass es verunsichert.

Optimier dich anders

Es gibt Selbstoptimierungsmethoden, die weit effizienter sind, als sich durch einen tausendseitigen Roman über die Seelenergüsse eines norwegischen Vaters zu quälen. Der moderne Imperativ "Lies, und du wirst besser!" ist zwar gut gemeint, wirkt aber letztlich doch eher hilflos.

Dies soll keine Warnung vor dem Lesen sein. Es wäre vermessen, zu behaupten, Literatur mache böse. Aber der Wert von Büchern kann nur weiterhin in aller Stärke glänzen, wenn wir ihn nicht mit einem instagramtauglichen Selbstoptimierungsfilter belegen. Objektunabhängige I-love-books-Kommentare stehen mit Herzsmileys geschmückt unter den oben genannten Artikeln, "Lies Bücher und werde besser!" in den Titeln darüber. Dadurch wird das Potenzial von Büchern geschwächt und verharmlost. Denn ein Buch kann eines der rebellischsten, radikalsten und subversivsten Dinge sein, die wir als Menschen haben.